Sonderseite Artur Märchen
Mein lieber Freund und Meister Artur Märchen starb vor 14 Jahren in diesem Monat März. Ihm zum Gedächtnis schreibe ich ein paar Zeilen hier. Der Gespensterroman von Robert Wolfgang Schnell von 1964, „Geisterbahn“, trifft genau die Lage, als wir damals in der Zossenerstraße gegenüber dem Leierkasten wohnten: Er beginnt: „Märchen ging die Zossener runter. Gerade war er getauft worden.“ Wer ihn da taufte, nämlich die dicke Rosi vom Leierkasten, kommt nicht so richtig heraus, aber es soll ja auch ein Gespensterroman sein, die Figuren sind nur schemenhaft wiedergegeben. Sie vertraten uns alle, nicht einzelne, eher die ganze Stimmung damals.
Jedenfalls hatten wir ein Atelier in dem Haus gegenüber vom Leierkasten, im „Souterrain“ (vulgär: Kellerwohnung). Wir nannten es „Atelier totale Kunst.“ Mein Raum lag direkt an der Straße, ich brauchte mich morgens, wenn ich aus dem Leierkasten gegenüber heimkam, nur durchs Fenster runterfallen zu lassen und landete dann auf meinem Bett. Im Raum neben mir wohnte Winfried Meier, der später zum französischen Militär mußte, weil er während der Flucht seiner Eltern auf französischem Boden geboren war. Er malte ganz verrückte Bilder, ich besitze nur eins von ihm. Seine Geliebte war die schöne Uschi, die später einen ebenfalls bekannten Leierkastengänger heiratete. Im nächsten Raum wohnte Wolf Kömnick, der bastelte eigenartige Figuren. Er gründete später, weil ich immer soviel von meinen Trämpfahrten erzählte, das erste Mitfahrunternehmen, die „Linde“, und verdiente sogar was dabei.
Ach, von den beiden hab ich seit damals nichts mehr gehört. Wenn Ihr das lest, meldet Euch doch mal!
Und hinten wohnte Märchen, um den geht es ja hier. Er hatte seinen eigenen Lebensrhythmus, schnitt Kartoffelmännchen aus Linol und schaffte es tatsächlich, die Drucke an den Mann zu bringen, während wir anderen es nicht so leicht hatten. Wir kreideten auf dem Kudamm, ich zum Beispiel einen Stier aus der Höhle Altamira, garantiert Jahrtausende alt, und nannte das Bild: die Kudamm-Kuh. Das brachte dann auch mal an einem Abend die Monatsmiete ein, die war recht billig, so etwa 25 Mark pro Neese. Oder ich malte auf dem Kuhdamm Ölbilder auf Leinwand auf meiner Staffelei vor aller Augen und wurde eins sogar auf den Schlag los für fünfzig Mark, feucht wie es war. Die Freunde staunten.
Wir hatten auch mal Pech: Auf den Stufen der Gedächtniskirche sangen wir (ich mit Gitarre) ein wildes Lied, wurden eingesperrt und mußten dann eine Strafe zahlen. Die wurde im Leierkasten durch öffentliche Sammlung – nach Absingen desselben Liedes – im Hut erbracht und am nächsten Tag an die Senatskasse überwiesen.
Später zog Märchen in die Naunynritze (in SO 36), dort hat ihm seine Frau Marika eine Tochter geboren, Caterina. Er baute ihr eine wunderschöne Wiege und kümmerte sich liebevoll um sein Töchterchen. Ich war oft Gast bei ihm und freute mich über dieses Glück, das bald danach auch bei uns einkehrte, als meine Frau den Sascha zur Welt brachte.
Schade, daß wir damals noch keine Händis hatten und keine Fotos machten. Fotografieren auf Zelluloid war ja auch recht teuer. Kürzlich entdeckte ich ein Foto aus jener Zeit (oder etwas später), als wir vom Leierkasten zur Weltlaterne wechselten. Es stammt von dem berühmten Fotografen Michael Schmidt, der es in seinem Buch Berlin Kreuzberg 1973 veröffentlichte (copyright könnte reserviert sein). Man sieht Märchen in voller Fahrt märchenerzählend auf dem Tisch, vorne links die schöne Wirtin Hertha Fiedler und rechts neben Märchen Herthas Sohn Bernd. (Der große Friedrich fehlt hier leider, das wäre sonst ein Jahrhundertfoto geworden).
Hier ist nun ein Bruch in der Erzählung, es geht weiter nach dem Mauerfall. Wir trafen uns ziemlich bald in der vereinten Stadt wirder. Märchen war der Alte geblieben und inzwischen eine Berühmtheit. Seine Bilder gefielen mir sehr (im Gegensatz zu seinen früheren Grafiken), wir wurden bald wieder enge Freunde. Ab 1993 wohnte ich mit meiner Familie dann bei ihm am Carl-Herz-Ufer 5, nicht weit vom Urban-Hafen. Ich stellte in seinem Atelier „Künstlerpech“ aus und wir hatten alle Nase lang Ereignisse mit Dichterlesung, Tanz und vor allem Musikdarbietung. In diesem Winter war bei uns immer was los. Wenn Märchen so richtig in Fahrt kam, und das war oft, dann spielte er sein Bandomium hinter seinem Rücken verschränkt (!) und so ausdrucksvoll, daß auch hartgesottene Typen weinten.
Wie wir Märchen in seinem Sarg zu seiner Gedächtnisausstellung trugen, ist wohl oft erzählt worden. Hier kurz meine Version: Märchen hatte sich über eine Aussage der Aussteller dermaßen geärgert. daß er schließlich sagte: „Nur als Leiche geh ich dahin!“ Das nahmen wir wörtlich und packten ihn, als es soweit war, in seinen Sarg, in dem er oft schlief. Meine starken Söhne hoben das Möbel auf die Schultern und hieften es in meinen Wagen. Am Chamissoplatz luden wir vier den Sarg wieder aus und trugen ihn in die Galerie mit den schon seit einer halben Stunde wartenden Gästen der Ausstellung. Dann erklärte ich kurz, daß Märchen nicht kommen kann, weil er bereits im Sarg liegt. Wieweit man uns glaubte, weiß ich jetzt nicht mehr, der Eindruck war jedenfalls kräftig. Ich las ein Gedicht von Märchen vor, und dann erhob sich der Deckel des Sarges und Märchen stieg frisch und munter heraus. Das war wirksam. Es wurden sicher einige Bilder mehr verkauft, denn wenn er wirklich tot gewesen wäre, dann hätten die Preise gewaltig angezogen, glaubten wir damals alle.
Leider haben wir auch von jener Episode keine Fotos. Vielleicht hat Beate welche?
Hier eins der raren Fotos, das ich damals in seinem Atelier aufnahm:
mein Portrait von Märchen findet man hier.
Caterina habe ich auch portraitiert. Hier mein Ölbild von 1994:
In einem Winter konnte Märchen seine Rechnung beim Kohlehändler, der ihn seit vielen Jahren kannte, nicht mehr bezahlen. Er schlug vor, daß er ihm die Mauer neben dem Eingang zum Laden mit einem Bild verschönere. Der Kohlehändler ging darauf ein, und so haben wir dieses herrlich wärmende Wandbild von Märchens Hand in der Urbanstraße (die Kritzeleien darüber sind von Narren, wie sprichwörtlich):
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