Das Wasserparadies |
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Eine Kritik des Buches "The Descent of Woman" (1972) von Elaine Morgan (deutsch: Die Kinder des Ozeans) | ||||
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“Die Abstammung der Frau” nennt Elaine Morgan (Wales, 1920) ihr Buch1 über die Herkunft des Menschen aus dem Wasser. Sie spielt damit selbstverständlich auf Darwins Hauptwerk an; und das darf gleich dazugesagt werden: Morgan ist Darwinistin reinsten Wassers. Sie stellt die Grundlagen der Evolutionstheorie nicht in Frage, bewegt sich also im Rahmen der offiziellen Wissenschaft, aber führt diese weiter. Ihre Theorie ist eigentlich nur die konsequente Entwicklung der grundlegenden Ideen, die seit fast zwei Jahrhunderten – nämlich schon seit Darwins Vorläufer Jean-Baptiste Lamarcke – unsere Ansicht der Menschwerdung geprägt haben: Anpassung an die Umwelt, Überleben der am besten angepaßten, Vererbung deren Eigenschaften. Insofern ist es eigentlich unerklärlich, warum die offizielle Wissenschaft Morgans Buch als ‘unseriös’ abtut und Schwachstellen angreift, anstatt diese Theorie auszubauen und zu vervollständigen. Elaine Morgan selbst geht von der herkömmlichen Theorie aus: die Hominiden lebten einst auf Bäumen und wurden durch das trockene Pliozän und den Schwund des Waldes dazu gezwungen, in der Savanne zu überleben, wo sich der aufrechte Gang entwickelte. Morgan zeigt mit zwingender Logik, daß eine Savanne kein Ort ist, an dem ein Menschenaffe überleben würde, und schon gar nicht, wenn er auf die Vorderfüße verzichtet (also langsamer wird), das Haar verliert und den Geruchssinn schwinden läßt. Auch die Erfindung des Werkzeugs durch Versuch und Irrtum ― ein Wurfstein gegen einen Leoparden ― funktioniert nicht: wenn man nicht beim erstenmal trifft, gibt es keinen zweiten Versuch. Wie aber, wenn die Menschenaffen statt in die Savanne ins Wasser gingen? An einen möglichst seichten Strand? Genau in den Bereich, den weder Leoparden noch Haifische schätzen, und in dem reichlich Weichtiere vorhanden sind, die man mit Steinen (Werkzeug) knacken muß? Morgan baut hier auf die Theorie des angesehenen britischen Zoologen Sir Alister Hardy 2 (1896 – 1985) auf; allerdings kann man auch frühere Vorläufer finden: der deutsche naturwissenschaftliche Schriftsteller Wilhelm Bölsche (1861-1939) hatte bereits 1910 in seinem Buch “Stunden im All”3 die Frage aufgeworfen, wieso ein so schutzloses Tier wie der Mensch überhaupt überleben konnte, und geschlossen, daß sich die Spezies über längere Zeit in einer Art “Paradies” entwickelt haben muß, in dem es keine natürliche Feinde gab, aber der Spieltrieb Anlaß zur Nutzung von Werkzeugen gab; Parallelen sind in der Tierwelt zu finden. Bölsche hatte auf eine Insel geschlossen und die in vielen Kulturen vorhandenen Mythen der “Austreibung aus dem Paradies” in Zusammenhang gebracht mit der geologischen Veränderung, die diesen geographischen Schutz irgendwann aufhob. Der Autor dieser Rezension hatte allerdings, auf Bölsche aufbauend, in einem kurzen, nur in kleinstem Kreise veröffentlichten Essay4 vorgeschlagen, ein Binnenmeer oder eine seichte Küste würde außerdem zahlreiche andere Fragen lösen, die Bölsche ebenso beschäftigten, aber deren Antwort er nie fand, so z.B. der Aufrechtgang oder die Haarlosigkeit (was hat den Menschen entpelzt, fragt sich Bölsche, und stellt fest: die Hitze kann es nicht gewesen sein). Die Lektüre von Morgans ausführlichem – und sehr gut geschriebenem – Werk bestätigte dann den Rezensenten in seiner Auffassung. Morgan kannte Bölsches Werke wahrscheinlich nicht ―wenige wurden ins Englische übersetzt―, steht aber trotzdem in der Nachfolge dieses genialen Denkers, dessen Bücher (mit Auflagen über Hunderttausend) vor allem durch ihre eigenwilligen Fragen bestechen, die bis heute nicht nur nicht beantwortet sind, sondern oft gar nicht mehr gestellt werden (vom Orgasmus der Amöbe bis zum Sinn der Weltraumforschung), und Generationen von Lesern eine streng wissenschaftliche, aber trotzdem für ungewohnte Gedanken offene Weltsicht vermittelt haben. Morgans direkter Bezug ist Desmond Morris, der 1969 mit seinem Buch “Der nackte Affe”5 unser Weltbild von der Entwicklung des Menschen entscheidend prägte, indem er die wissenschaftlichen Theorien seiner Zeit für eine größere Leserschaft zusammenfasste. Morgan zeigt mit großer und sogar witziger Schärfe (ihr britischer Humor ist, jedenfalls in der Originalfassung, außerordentlich erfrischend) die Schwachstellen dieser Theorien auf und legt dar, warum sie nicht funktionieren. Morgan erklärt auch die Entstehung der Sprache aus dem Wasser-Umfeld, das die Kommunikation durch Geruch unmöglich machte und die Verständigung durch Mienenspiel und Bewegung sehr erschwerte. Zahllose anatomische, aber auch psychische, Einzelheiten fügen sich zusammen; vielleicht werden sich nicht alle als zutreffend erweisen; das Gesamtbild ist jedoch überzeugend: der Mensch muß eine aquatische Phase durchlebt haben, die sein Erscheinungsbild entscheidend prägte. Morgan geht durchweg davon aus, daß ein Landsäuger (Menschenaffe) sich ans Wasser anpassen mußte. Der Zoologe François de Sarre, der die Herkunft des Menschen aus dem Meer vertritt, erklärt ebenfalls die Zweibeinigkeit aus dem Wasserleben, allerdings ohne einen Umweg über das Land: seine Theorie der “Ursprünglichen Zweifüßigkeit” (Bipédie initiale)6 läßt die gesamte Entwicklungskette des Menschen – und die frühe Phase der heutigen Landsäuger – im Meer ablaufen. Das erklärt allerdings nicht die anatomischen Einzelheiten, die bei Morgan oft Antworten eines Landtieres auf das flüssige (und salzige) Element sind. Dieselbe Idee findet sich auch in einem Schöpfungsmythus der Achang, eine nichtchinesische Minderheit in Yunnan in Südwestchina. Ihr Schöpfungsepos wurde in der Originalsprache um 1980 aufgezeichnet und durch den Sinologen Bruno J. Richtsfeld in Deutsch herausgegeben7. Uwe Topper, dem ich diesen Hinweis verdanke, faßt den Mythos so zusammen: Das Schöpferehepaar Zhepama und Zhemima webte Himmel und Erde; der Himmel war kleiner geraten als die Erde, darum begab sich Zhepama nach Süden und besserte ihn aus. Währenddessen tauchte das Ungeheuer Lahong auf - niemand weiß, woher es kam - und befestigte zwei gewaltige Feuerbälle am höchsten Berg, so daß es nicht mehr Nacht wurde. Sie senkten sich auch nach drei Jahren noch nicht. Die Welt wurde ein Flammenmeer, vier Jahre dauerte die Katastrophe. Die Menschen litten Not; die auf den Bergen lebenden Tiere wurden ins Wasser getrieben, die im Wasser lebenden aufs Land. Schwein, Hund, Rind und Pferd lernten schwimmen und entgingen der Not; der Krebs auf der Kuppe des Berges rang nach Luft, seine Schuppen wurden in der Hitze hart und zu einem Panzer, den er auf dem Rücken trug. Der große Fisch wurde zum Schuppentier, das sich eine Höhle in den Berg bohrte, um der Sonnenglut zu entgehen, es stillte seinen Hunger mit Ameisen. Zhemima verging fast vor Sorge für ihre Schöpfung, bis endlich Zhepama zurückkehrte und sie ihn anstiftete, mit Lahong zu kämpfen und ihn in drei Wettkämpfen zu besiegen: in Zauberei, Traumerlebnis und Weisheit. So geschah es, Lahong verlor alle drei Kämpfe, und die Erde wurde wieder bewohnbar. Es ist erstaunlich wie hier, in fast evolutionstheoretischer Sprache, die Anpassung bestimmter Spezies an veränderte Lebensbedingungen nach einer kosmischen Katastrophe beschrieben wird. Zwar wird nirgends gesagt, daß auch der Mensch “schwimmen lernen” mußte, aber es liegt nahe, daß er zeitweilig nur im Wasser überleben konnte. Aber die Erklärung der heutigen anatomischen Gegebenheiten ist gar nicht das wichtigste Anliegen des Buches. Viel faszinierender ist die Frage nach der Evolution der Psyche. Darauf weist der auffällige Titel “Die Abstammung der Frau”, hin (der in der deutschen Übersetzung fortfiel), viel mehr als ein feministischer Seitenhieb. Morgan steht in der Tradition der großen Feministinnen, die versucht, die offensichtliche (soziale oder etwa biologische?) Fehlprogrammierung der Beziehung zwischen Männchen und Weibchen zu erklären. Der springende Punkt ist hier die Frage nach der fehlenden “Agressionsbremse”. Biologen rätseln seit langem daran, wieso es beim Menschen keine biologische Hemmung gibt, einen Artgenossen umzubringen, während diese Hemmung bei Wölfen (und fast allen anderen Tieren) perfekt funktioniert: die Unterwerfungsgeste des Gegners blockiert normalerweise jede weitere Agression des Siegers. Nur beim Menschen nicht, oder nur geringfügig, sonst gäbe es keine Massaker. Sowohl die Fähigkeit zur Agression, als auch die eigentlich unerklärliche Tatsache, daß für einen Großteil der männlichen Bevölkerung Agression und Sexualtrieb auf irgendeine Weise verbunden sind – sonst gäbe es keine Vergewaltigungen – kann Morgan auf das Wasserleben zurückführen, genauer gesagt auf die durch das Wasserleben verursachten anatomischen Veränderungen. Der Gedankengang ist schwer in wenigen Zeilen darzustellen; man sollte das Buch lesen. Da Morgans Ausführungen aber gerade für die Theorie der verkürzten Chronologie in erdgeschichtlichen Zeitaltern überraschende Einsichten bieten können, seien sie hier versuchsweise vorgestellt: Da die aufrechte Körperhaltung eine Verschiebung der weiblichen Sexualorgane nach vorne bewirkte, wurde die Kopulation ―die bei allen Primaten von hinten vor sich geht― erschwert. Und da gleichzeitig der Verlust des Geruchssinns im Wasser die sexuelle Kommunikation verlorengehen ließ – die bei den meisten Säugern äußerst wichtig ist, um dem Männchen zu signalisieren wann ein Weibchen zur Paarung bereit ist und wann nicht – wurde das Sexualleben des aquatischen Affens zu einer heiklen Angelegenheit: erstens wurde das Weibchen zum Koitus aufgefordert, ohne dazu “aufgelegt” zu sein, und zweitens blieb, durch die neue Anordnung der Geschlechtsorgane, der weibliche Orgasmus aus. Der Wechsel zur Bauch-zu-Bauch-Paarung, der bei Wassersäugern üblich ist, wurde zwar vorgenommen, aber gegen den Willen des Weibchens, wie Morgan etwas individualisierend erklärt: instinktiv versucht jedes (Land-)Tier, seinen verwundbaren Bauch zu schützen; diesen Instinkt zu durchbrechen gelang nur Männchen mit sehr geringer Agressionshemmung... die einzigen, die nun zur Fortpflanzung gelangen konnten und, im Darwin’schen Sinne, diese Eigenschaft vererbten. Und um die Paarung nicht vollkommen in einen Kampf zu verwandeln, wurde das Weibchen mit sozialen Gesten – genauer: Zärtlichkeitsgesten – beschwichtigt (was unter Tieren sonst nicht nötig ist): daher die Verquickung von Sex und Liebe, zwei verschiedene Formen der sozialen Bindung, die bei Primaten nichts miteinander zu tun haben. Bei diesen Ausführungen hat man manchmal den Gedanken, daß Elaine Morgan von einem etwas viktorianischen Gesellschaftsmodell ausgeht, deren Verhaltensnormen sie unbesehen als die der “menschlichen Gesellschaft” akzeptiert. Aber gerade das regt zum Nachdenken an: in weniger als einem Jahrhundert haben sich diese Normen grundlegend geändert und dabei, so kühn es klingen mag, selbst auf die anatomischen Gegebenheiten Einfluß genommen. Während noch vor hundert Jahren die Mediziner darüber stritten, ob der weibliche Orgasmus überhaupt existiere, gibt es heute wohl kaum noch eine Engländerin, der die Funktion der Klitoris nicht klar wäre. Und Organe verbessern ihre Funktion durch Training. Ist der Mensch –die Frau– auf dem Wege, endlich die durch die Wasser-Phase bedingten sexuellen Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen? So etwa lautet Morgans Gedankengang, wobei die Autorin die konventionellen Jahrmillionen unbesehen akzeptiert, allerdings recht locker mit ihnen umgeht. Und gerade hier drängt sich der, von Morgan nur ganz am Schluß ausgesprochene, Gedanke auf, daß das Modell, so wie sie es vorstellt, wörtlich stimmen könnte: daß sich sexuelle Gewohnheiten und sogar anatomische Funktionen im Laufe von Generationen ändern könnten, gerade so wie wir es heute erleben. Morgan erwägt, daß die natürliche Auslese durch die Geburtenkontrolle (“Darwin und die Pille”) rasant beschleunigt werden wird. Aber auch rückblickend kann man ahnen, daß die Entwicklung der Menschheit nach dem Verlassen des Wassers eben doch nicht Jahrmillionen durchlaufen mußte, sondern nur einige Jahrtausende: nichts ist logischer als aus den heutigen Gegebenheiten Rückschlüsse zu ziehen, und die Entwicklungen, die wir heute erleben (in Bezug auf sexuelle Gewohnheiten, auf das anatomische Selbstverständnis, auf die Bewertung der männlichen Agression), brauchen offensichtlich keine Jahrmillionen um sich bemerkbar zu machen. Vielleicht ging es auch früher rascher zu, als sich die Affen das dachten. |
Quellen |
1.
Morgan, Elaine. The Descent of Woman. Souvenir Press 1972. London. (Deutsch: Die Kinder des Ozeans, Goldmann 1988) |
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