Eine mutige Frau - ein wildes Jahrhundert
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Nachruf auf Germaine Tillion
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Uwe
Topper
Berlin · 2008 |
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Am 18. April 2008 starb Germaine Tillion, französische Aufklärerin und mutige Kämpferin gegen Kolonialismus und Besatzungsmacht, im Alter von 100 Jahren in Frankreich. Trauerfeiern und Nachrufe gab es zuhauf, sie war nie vergessen worden. Als eine der wenigen Frauen, die das Großkreuz der französischen Ehrenlegion erhielten, geehrt auch von der Bundesrepublik Deutschland mit dem Großen Verdienstkreuz (2004), hat diese weltweit bekannte Anthropologin und Kämpferin gegen staatliche und religiöse Unterdrückung allgemeine Anerkennung gefunden. Auch ihr Leben ist weithin bekannt, da sie oft im Kreuzfeuer des Tagesgeschehens und der Politik stand, angefeindet von beiden Seiten wie etwa im Algerienkrieg, wo sie Stellung nahm für die Nationale Befreiungsfront und doch im Auftrag der Französischen Republik ihre Versöhnungsarbeit durchführte, erfolglos, wie wir wissen. Nur ihre ethnographisch-soziologische Arbeit und Wirkung soll hier kurz besprochen werden, soweit das für unseren Themenbereich von Bedeutung ist. Von ihren Büchern ist vor allem das Ergebnis ihrer jahrelangen Forschungen im gesamten Mittelmeerraum zu nennen: „Le Harem et les Cousins“ (1966), ein Titel, der uns nicht viel sagt (Der Harem und die Vettern), und der darum bei den Übersetzungen meist verändert wurde; in Spanisch, in dem ich das Werk zuerst las, lautet er treffend: „Die Stellung der Frau im Mittelmeergebiet“. Als Schülerin des Soziologen Marcel Mauss und des Religionswissenschaftlers Louis Massignon und mit drei Diplomen versehen hatte sie Zugang zu den höchsten Stellen und erhielt 1957 den Auftrag, eine Studie über die Un-Gleichberechtigung in den mittelmeerischen Gesellschaften, von Syrien und Libanon bis Marokko und Andalusien zu verfassen. Das Ergebnis ist dieses grundlegende Werk, das nicht nur viele wissenschaftliche Fehleinschätzungen richtigstellte sondern auch mit dem entsprechenden Nimbus ausgestattet war, um durchgreifende soziologische Änderungen im Verhalten der Staaten anzuregen. Ihre Aufklärung gegen die Religionen, die an der Unterdrückung der Frauen festhalten, und ihre Bloßstellung der grausamen Sitten (erzwungene Junfrauenheirat, Blutrache), die von Religionen und Traditionen gefördert werden, liest sich – zum mindesten im Blick auf den damaligen Zusammenhang – immer noch mit Spannung. Aus den wenigen erhalten gebliebenen Resten ihrer ersten Aufzeichnungen im Berberland Algeriens, im Aurès, lieferte sie gegen Lebensende einen lebendigen Bericht über den Beruf des Ethnologen am Beispiel ihrer eigenen Tätigkeit, das durchaus noch Schule machen könnte: „Il était une fois l’ethnographie“ (Èditions du Seuil 2000, auf deutsch etwa: „Einst gab es eine Völkerkunde“), das ich abschließend kurz skizzieren möchte, da es m.W. in Deutschland wenig beachtet wurde. Manchmal weiß man beim Lesen nicht, ob die alte Dame in ihrem Rückblick nur ironisch oder auch nostalgisch an jene Zeiten erinnert, als sie 1934, frisch von der Uni mit ihrem ersten großen Auftrag in Algerien, etwas ungewöhnlich als Frau (nur mit einer Kollegin) im Berberland ihre Feuertaufe erhielt. (Feuertaufe sage ich nicht nur wegen der vielen Morde, die damals dort noch zum Alltag gehörten, wobei Frauen allerdings ausgenommen waren, sondern auch wegen des „Himmelsfeuers“, das sie drei Sommer lang tapfer ertrug). Im Gepäck der zwölf Maultiere führte sie nicht nur Botanisiertrommel und Insektenkasten mit, sondern auch „Dynamometer, Skala für die Augenfarbe, eine weitere Skala für die Haarfarbe und die der Haut, Blutdruckmeßgerät (nicht zu vergessen die Plaketten für die Blutgruppenbestimmung); das Zubehör für Landvermessung; Geräte zur Durchführung von Tests (Zeichnungen, Geduldspiele) ...“ und natürlich Filme, ein Tonaufnahmegerät (das allein 60 kg wog!) – kurzum das ganze Arsenal, das zwischen Spionage für die Besatzungsmacht und wissenschaftlicher Arbeit auf halbem Wege liegt. Und das war üblich, wie sie mit Schmunzeln schreibt. Ihre damaligen Fotografien sind noch heute von hohem Wert (herausgegeben durch François Gauducheau 2001). Das Buch ist humorvoll und mit dem Blick der altgedienten Forscherin unter Einbeziehung der neuesten Literatur zum Thema geschrieben, ein Lesegenuß. Die Probleme sind erstaunlicherweise dieselben, die sie schon vor vierzig Jahren angriff: Jungfrauenzwang zur Verheiratung, Vetternehen, strengste Strafen für Unkeuschheit und eheliche Untreue (für Frauen), Vorherrschaft der Erstgeborenen ohne Beachtung der menschlichen Vorzüge der anderen Bewerber, Ehrenmorde und Blutrache ... als hätte sich in diesem Jahrhundert nichts ändern können. Selbst die Diskussion über die Ursachen des Inzestverbots ist keinen Schritt vorangekommen. Ob nicht auch die falsche Chronologie – Tillion verwendet sie unhinterfragt – zu den Ursachen gehört? Wenn man eine traditionelle Stammesgesellschaft durch Eroberung (hier durch die Franzosen) an ihrer normalen Entwicklung hindert, sagt Tillion, entsteht ein unterworfenes und verarmtes Volk, das sich nicht mehr selbst weiterentwickelt; man nennt es dann Entwicklungsland. In Wikipedia wird das Buch „Autobiographie“ genannt. Das ist nur bedingt richtig, bedingt nämlich durch die Darstellung, die Germaine Tillion ihrem Thema widmet und durch das Ergebnis, das sie herausarbeiten will: Ein Ethnologe ist kein Chemiker, der beobachtet, wie sich Kristalle bilden und dabei möglichst nicht eingreift, sagt sie, sondern er wirkt durch sein Dasein immer auf sein Forschungsobjekt ein: Ethnologie ohne Mission der eigenen Kultur kann es nicht geben. Im Aurés arbeitete sie als Ethnologin bis 1940, dann ging sie nach Paris, wo sie ein Netz der Resistance aufbaute, dem bei der Aufdeckung mehrere Männer zum Opfer fielen. Sie entging diesem Schicksal und wurde ins KZ Ravensbrück gebracht, wo sie überlebte, während ihre Mutter im selben Lager kurz vor der Befreiung starb. Ihre gesamten Manuskripte gingen dort verloren, mit Ausnahme eines Theaterstücks, das sie dort geschrieben hatte und das zu Ehren ihres hundertsten Geburtstags in Paris uraufgeführt wurde: „Verfügbar aux enfers“.
Nachtrag · 15 Dezember 2013: 2. Nachtrag Nov. 2015: Germaine Tillons Überreste wurden 8 Jahre nach ihrem Tod, im Mai 2015, ins Pantheon überführt. Auf einem Foto, das die FAZ am 3. Nov. 2015 (S. 13) anläßlich einer Ausstellung ihrer Fotografien aus Algerien zeigt, sieht man die unerschrockene Forscherin auf einem Maultier, Gewehr auf der linken Schulter, ins Tal der Buzina im Aurès reiten; hinter ihr ein Maultier mit hohem Gepäck. |
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