Chronologieprobleme der arabischen Geschichte |
Rezension
eines Buches von Youssef Seddik
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Uwe
Topper
Berlin · 2005 |
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Der in Paris lehrende
Tunesier Youssef Seddik hat mit seinem neuen Buch*
(2004) ein Problem aufgeworfen, das schon mehrfach von uns besprochen
wurde und auch bei Lüling und Olagüe Beachtung fand. Da der
Autor Seddik ohne Kenntnis dieser Vorarbeiten auf dasselbe Rätsel gestoßen
ist, bin ich von der Klarheit der Gedanken wieder überrascht: Seddik fragt nun: Warum wurde die Schriftfähigkeit dreihundert Jahre vor dem Beginn der islamischen Mission vergessen und warum gab es eine weitere lange Pause von rund zweihundert Jahren nach deren Beginn? Es sind übrigens fast dreihundert Jahre, wie Seddik selbst sagt, indem er Al-Ya'qubi zitiert, "einen der dem koranischen Augenblick (zeitlich) am nächsten stehenden arabischen Autoren (gestorben 905)" (S. 185). Er findet zwar Antworten, merkt aber selbst, daß sie nicht ausreichen.
Für das zweite Rätsel argumentiert er zum Beispiel dieser Art:
Der Koran war dermaßen heilig, daß Schriftbenützung fortan
nur noch für dieses einzige Buch möglich war. Dagegen sprechen
natürlich die weiten Handelsbeziehungen der damaligen Araber und
die verwaltungstechnischen Aufgaben in dem weiten Reich; beides ist ohne
Schrift nicht denkbar. Dann stellt Seddik eine weitere wichtige Frage: Wie steht es mit der
Übernahme der griechischen Kultur im jungen Arabien? Hat sich in
Koran und Hadith etwas davon niedergeschlagen? Und er findet so zahlreiche
Beispiele für die direkte Anknüpfung an Jonien (wie der Araber
durchgehend statt Hellas sagt), daß ein weiteres Problem sichtbar
wird: Der Prophet knüpft an das antike Griechenland an, nicht an
das byzantinische. Wenn die Griechen erwähnt werden, sind sie immer
Heiden und klassische Philosophen, und das wertet auch Al-Ma'mun aus,
der abbassidische Kalif, der die griechischen Wissenschaften ins arabische
Weltbild einbezog. Hier kann etwas nicht stimmen. Der (sagenhafte) Al-Ma'mun hat ganz sicher
das Wissen und die Schriften seiner griechischen Zeitgenossen verwendet,
die er übersetzen ließ. Er war kein Archäologe, sondern
ein moderner wissenschaftsinteressierter Herrscher, d.h. er wollte keine
Geschichte der frühen Menschheit schreiben, sondern aktuelles Wissen
übertragen. Er muß Ptolemäus als Lebenden oder vor kurzem
Verstorbenen angesehen haben. Dazu gehört das Geheimnis der Sabäer, Anhänger der vierten der traditionellen Buchreligionen, die im Islam rechtlich anerkannt waren als gleichberechtigte Monotheisten (wie Christen und Juden; manchmal zählen auch die Magier oder Gebr - Zoroastrier - dazu). In den Lexika werden die Sabäer - sofern sie nicht mit den Bewohnern der alten Stadt Saba im Jemen verwechselt werden - als Sabier, Sterngläubige, beschrieben, zur Unterscheidung modernerweise Mandäer genannt. Sie wurden auch Johannischristen genannt (von Sobba=Täufer). Ihre heiligen Schriften, um deretwillen der Prophet ihnen Gleichberechtigung einräumte, waren in eigentümlichem Syrisch verfaßt, sie sind seit dem 19. Jh. auch in Europa vorzüglich herausgegeben und kommentiert. Eine ihrer blühendsten Städte war Harran am Oberlauf des Euphrat. Nicht weit liegt die stark befestigte Stadt Edessa, wo das sogenannte Schweißtuch Jesu herstammt. In dieser Gegend verehrt man noch heute Abraham an seiner Geburtsstätte, füttert die heiligen Fische im Teich und betet an Hiobs Grab. Hier bilden noch Judentum, Christentum und Islam die Einheit, von der die Altgläubigen träumen. Hier liegt eine Entstehungsstätte des Monotheismus. In Harran geschah die Weitergabe der griechischen Philosophie an die Sufis des Islam, wie von diesen immer wieder betont wurde. Die Sabäer gelten zuweilen auch als die eigentlichen Überträger der monotheistischen Idee an den arabischen Propheten. (Das hat ebenfalls Seddik herausgearbeitet, S. 190; allerdings sieht er die Stadt Harran als identisch mit Karran, geographisch weiter östlich nahe Mossul, indem er der Encyclopédie de l'Islam vertraut). Nach gewissen Darstellungen ist die Regierungszeit des christlichen Königs von Edessa, Abgar ("V") kurz vor Mohammeds Zeit angesetzt. Damals wurde das Schweißtuch Jesu erstmals erwähnt. Das sind wiederum nachträgliche Festlegungen von Daten, über die wir absolut nichts wissen können; sie zeigen aber, welches Szenario die Theologen im Sinn hatten, als sie diese Geschichte schrieben. Die Sabäer von Harran, die einen unverdorbenen Monotheismus ausübten und bruchlos von Platon zur Sofia (Sufismus) führen, sind die Hanifen des Koran: die ersten Moslems. Nun seziert Seddik (S. 260 f) ein weiteres Problem, das noch größere Wellen schlagen müßte: Der in der Koransure 18 ("Die Höhle", Verse 83-97) geheimnisvoll auftretende "Herr der zwei Hörner" (Dhul Qornein), ein großer Reisender, der von den einen für Alexander d. Gr. gehalten wird, den anderen als Chidr gilt, hat scharfe Diskussionen unter den klassischen Auslegern bewirkt. Ibn al-Kathir (9.Jh.?) hält die Gleichsetzung von Alexander und dem Zweigehörnten aus inhaltlichen Gründen für unmöglich, "ganz abgesehen von den zweitausend Jahren, die ihre beiden Epochen trennen." Seddik übergeht diese wichtige Aussage, wobei mir unklar ist, warum er bei seiner sonst sehr ökonomischen Zitierweise diesen Satzteil nicht wegließ. Hier verbirgt sich ein unlösbares Problem: Wenn Ibn al-Kathir sich auf Moses bezog - der in diesem Zusammhang als Zeitgenosse des ewig lebenden Chidr genannt wird - dann würden ihn rund eintausend Jahre von Alexander trennen (nach abendländischer Vorstellung). Ibn al-Kathir hatte also entweder ein anderes Zeitmaß oder eine andere Gleichsetzung des Zweigehörnten im Kopf, was die Sachlage noch mehr verwirren würde. Seddik stellt nämlich klar, daß die Alexandersage, wie sie
trotz aller Kritik im Koran vorkommt, auf den Alexander-Roman (Pseudo-Kallisthenes)
zurückgeht, dessen Aufnahme im Islam frühestens in Ibn al-Kathirs
Lebenszeit anzunehmen ist. Oder der Koran greift auf dieselbe Quelle zurück
wie der Alexander-Roman. Seddik übersetzt sogar - ihm selbst weitgehend unbewußt -
unter Einbeziehung der ihm vertrauten christlichen Chronologie den Koran
sinngemäß und damit falsch: Sure 46, Vers 30: "Wir haben
ein Buch gehört, das lange Zeit nach Moses offenbart wurde"
obgleich im Original nur steht: "nach Moses" (min ba'd Musa).
Für Seddik liegen zwischen Moses und dem Koran rund zweitausend Jahre,
gewiß eine lange Zeit; für einen Moslem ist es jedoch nur ein
Zeitraum, über dessen Länge nichts aussgesagt werden kann. Für
die neue Chronologieanalyse liegt vielleicht nur eine Generation zwischen
den beiden Textabfassungen. Seddik erreicht mit seiner kritischen Lesung des Koran und seiner Untersuchung,
wie die heute übliche Fassung zustandekam, ganz erstaunliche Höhepunkte,
die noch akzentuierter hätten ausfallen können, wenn er Lüling
gelesen hätte oder einige chronologiekritische Arbeiten. Ich möchte
hier nur noch ein anderes Problem angehen, das er aufgeworfen hat: So wundert es auch nicht, daß der Götzendienst an der Kaaba
mit Hurerei gleichgesetzt wurde. Es gab damals laut Tradition viererlei
Arten, eine Vaterschaft juristisch festzulegen: Außer der "heute"
noch üblichen Art (gemeint ist die durch das gesetzlich getraute
Ehepaar) konnten folgende drei Situationen rechtsgültig sein, wie
eine durch Buchari gesicherte Erzählung (Hadith) von Mohammeds Frau
Aischa glaubwürdig macht (Seddik S. 210): Vielleicht ist hier die Anekdote angebracht: Nach einer nordischen Überlieferung
brachte die Frau eines Wikingers bei seiner Rückkehr nach jahrelanger
Fahrt ihm ein Kind auf dem Arm entgegen, und da er fragte, wer der Vater
sei, sagte sie ihm den Namen des Stallknechtes; daraufhin fragte der Hausherr
den Knecht, was er dafür wünsche: "Ein Pferd" war
die Antwort. "Nun, denn, nimm das beste, das du in meinem Stall findest!"
Damit war die Vaterschaft auf den Hausherrn übergegangen. So einfach
kann das sein. Ehrenmorde sind monotheistisch. Als ich diese Anekdote
einigen Berbern erzählte, bestätigte man: Das war vor der Islamisierung
bei uns ebenso. Womit das zitierte Hadith von Aischa bekräftigt wird. |
Literatur: Seddik, Youssef (2004): Nous n'avons jamais lu le Coran (l'Aube, Paris) Alle Zitate daraus sind von mir übersetzt. |
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