Velikovsky
und die vergessene Katastrophe
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Uwe
Topper
Berlin, September 2005 |
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Besprechung des Buchs von Velikovsky, Immanuel (1987): Das kollektive Vergessen. Verdrängte Katastrophen der Menschheit (a. d. Amerik. übers. v. F. W. Gutbrod; Ullstein, Frankfurt/M. und Berlin) |
Das schon 1982, drei Jahre nach Velikovskys Tod, in den USA erschienene Buch bezeichnete der Autor selbst als sein Vermächtnis. Er hielt es für dringend geboten, daß es so schnell wie möglich erscheine. "Im Gegensatz zu meinen früheren Büchern hat es nicht nur mit der Vergangenheit zu tun, sondern in erster Linie mit der Zukunft - einer Zukunft, die nicht Tausende oder Zehntausende von Jahren entfernt ist, sondern die unmittelbar vor uns liegt und an deren Schwelle wir jetzt stehen," sagte er schon 1971 in einem Seminar (im Vorwort von L. E. Rose zum Buch). Seitdem ist eine Generation vergangen, ohne daß sichtbar geworden wäre, was Velikovsky so dringend erwartete. Einzufügen wäre hier, daß das Buch in der vorliegenden Gestalt von Lynn Rose stammt, wie an einigen Stellen auch verraten wird, etwa in der Anmerkung auf S. 39, die darauf hinweist, daß "dieser Absatz" - wieviel genau, ist unklar - "teilweise von Velikovskys Vortrag (... 1974) übernommen" wurde. Oder S. 53, wo es heißt: "Der folgende Abschnitt wurde auf Vorschlag Velikovskys von Professor Lynn E. Rose verfaßt." Wo der Abschnitt endet, ist nicht erkennbar. Dennoch lohnt sich die Lektüre, denn viele Gedanken dürften auf Velikovsky zurückgehen. Außerdem stellt Velikovsky gleich weiterdenkend die Frage, ob es sich bei dieser Kollektivseele lediglich um das Produkt eines telepathischen Vorgangs handelt, oder ob sie auch aufeinanderfolgende Generationen verbindet, also eventuell erblich sei. Von der Beantwortung hänge das endgültige Schicksal des Menschengeschlechts ab (S. 24). In der Folge entscheidet sich Velikovsky für die Erblichkeit der traumatischen Erlebnisse der Menschheit, mithin für das unterbewußte Weiterschleppen der Gedächtnisinhalte, die aus dem Bewußtsein verdrängt wurden und darum umso gefährlicher wirksam werden können. An der Auswertung der Überlieferungen hapert es leider. Gerade da, wo Velikovsky erstmals aus der Bibel zitiert (S. 43) - aus Jesaja 24 - da wird er ungenau. Zunächst lobt er die Wortgewalt Jesajas grenzenlos ("Als Meister des geschriebenen Wortes hat Jesaja in der Weltliteratur nicht seinesgleichen") und stellt die Unübersetzbarkeit fest: "Keine Übersetzung wird auch nur im entferntesten seinem Hebräisch gerecht ...", aber dann bringt er einige Verse "nach der Übersetzung aus Herders Bibelkommentar", wobei er die Verse 1, 6 und 19-20 auseinanderreißt (hier fehlt Anmerkung 2, ein "sinnvoller" Druckfehler?) und diese Bruchstücke als Erinnerungsbericht eines Augenzeugen hinstellt, während in der Lutherbibel dieser Text im Futurum steht, als Prophezeiung aufzufassen. Außerdem steht in den ausgelassenen Versen nichts von Himmelskörpern als Verursachern der Katastrophe, sondern ganz wörtlich, daß die Menschen daran schuld waren, "denn sie übertreten das Gesetz und ändern die Gebote" (Vers 5). Dasselbe gilt für die kurze Erwähnung des kosmischen Ereignisses, bei dem die Sonne um zehn Grad rückwärts schritt (2. Kön. 20, 9-11), was Velikovsky als Hinweis auf die Katastrophe wertet . Leider fehlt im Bibeltext jede weitere Aussage, daß dabei irgendetwas aufregendes geschehen wäre; von Zerstörungen ist nicht die Rede. Es ging einfach so vor sich, niemand hat es gemerkt außer König Hiskia und dem Propheten Jesaja. Eben darin besteht ja die Verdrängungsarbeit der "aristotelischen" Geschichtsschreiber, wäre Velikovskys Argument. Dann hilft uns die Angabe "10° rückwärts" auch nicht weiter, denn so losgelöst ist sie wertlos. Oder sollten wir das auf einen Dekan beziehen, also zehn Tage zurückschreitend? Dann wäre dieser Jesaja-Texteinschub im 16. Jh. geschrieben, als man erkannte, daß der Kalender sich um zehn Tage verspätet hatte. Dann wäre der Einschub verräterisch für den Herstellungsvorgang der Bibeltexte (der ja bis auf Feinheiten etwa zu diesem Zeitpunkt seinen Abschluß fand), aber wertlos für die Erkenntnis von Katastrophenvorgängen, die Velikovsky in der "Nacht des 23. März 687 v.Chr." verortet (S. 45 u.ö.). Wie die genaue Festlegung dieses Datums für einen der früheren "Weltuntergänge" schon erkennen läßt, hat Velikovsky die Brüchigkeit der bisher benützten Chronologie noch nicht erkannt, obgleich er selbst zu diesem Zeitpunkt schon seit drei Jahrzehnten zum Zerbrechen der herrschenden Denkmuster in Sachen Zeitabfolge-Jahreszählung beitrug und manche Pharaonen um Jahrhunderte verschoben hatte. Im Gegensatz zu anderen theologisch orientierten Forschern hat Velikovsky auch die Hinweise auf Katastrophen im Neuen Testament (S. 98) in Betracht gezogen und sogar noch spätere Ereignisse, wobei er einen Siebenhundertjahrrhythmus zu erkennen glaubte. So hatte er im finsteren Mittelalter, im 7. Jh., eine entsprechende Katastrophe ausgemacht, die er mit dem Koran und seiner Verkündigung verknüpfte. "Mitte des 14. Jahrhunderts - Die Periodizität des Wahnwitzes", ist der nächste Abschnitt überschrieben (S. 101), der beginnt: "Wieder gingen siebenhundert Jahre ins Land, und wieder erwartete die Menschheit das Weltende." Dazu führt er zahlreiche Himmelserscheinungen sowie die Pest als Kennzeichen des befürchteten Weltuntergangs an, "Naturereignisse, die in verblüffender Weise an die Vorgänge während des Exodus und des Endes des Mittleren Reiches in Ägypten erinnerten," (S. 103), was ihn leider nicht zu dem Schluß nötigt, daß die Berichte davon auch von denselben Verfassern oder zumindest aus der selben Generation stammen dürften. Im Gegenteil, er läßt diese Ereignisse an der ihnen heute zugewiesenen chronologischen Stelle - Quellenkritik ist ihm jetzt völlig fremd - und rechnet nun aus dem Wiederkehren gleichartiger Vorkommnisse nach jeweils 700 Jahren eine nahe bevorstehende Katastrophe für das 21. Jahrhundert heraus. "Und da die Periode von siebenhundert Jahren nur eine Annäherung darstellt - könnte die nächste Explosion vielleicht schon früher auftreten?" Denn dabei würde "der 700-Jahr-Zyklus zum ersten Mal mit dem Millenniumszyklus (dem Jahrtausend-Zyklus) zusammenfallen" (S. 104), außerdem verfügt der Mensch heute über die nötigen technischen Vernichtungsmittel. Wir sehen, wie immer wieder die beiden Begriffe: kosmische Naturgewalten und Sündhaftigkeit der fehlgeleiteten Menschheit, also physikalische und theologische Denkschemata, miteinander verknüpft werden, was vielen Wissenschaftlern die Lektüre von Velikovskys Büchern so peinlich machte. Ob diese beiden Komplexe voneinander getrennt betrachtet werden können, ist jedoch fraglich. Selbst Platon hat in seinem Atlantisbericht keinen Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien gemacht. So endet auch Velikovsky sein Kapitel "In Angst und Bangen" mit folgendem inhaltsschweren Satz (S. 112): "Die Verwerfungen und Entgleisungen in den Bewegungen der Gestirne (V. sprach ausdrücklich auch von den Planeten Mars und Venus) wurden vom Volk der Juden dem Willen des Schöpfers des Menschen, des Wächters über dessen Taten, ja sogar über dessen Gedanken zugeschrieben. Die Rechtschaffenheit war aufgerufen, die Natur in Schranken zu halten." Solche magischen Verkettungen sind vor der Aufklärung durchaus tonangebend gewesen, in heutiger wissenschaftlicher Denkweise treten sie höchstens noch verdeckt auf. Auch der Hang, prophetische Aussagen zu treffen oder zumindest gewisse rhythmische Wiederholungen auszumachen, gehört zum Verhaftetsein in talmudisch-biblischem Denken und übersteigt bei weitem die eigentliche Zielsetzung einer geschichtskritischen Sicht. In diesem Zusammenhang gibt Velikovsky auch viele Antworten auf Fragen, die zu seiner Zeit diskutiert wurden. So erwähnt er den geradezu unausrottbaren Haß, den das "jüdische Volk" seit vielen Jahrhunderten gegen die Amalekiter hegt "bis auf unsere heutige Zeit" (S. 142) und erkennt in diesem Sinne auch den Ursprung des Antisemitismus (S. 143), der darauf beruhen soll, daß eine Gruppe von Auserwählten "behauptet, daß die Vorgänge, die die Menschheit bis an den Rand völliger Vernichtung führten, von Gott oder der Natur (sic!) auf Bitten eben der Gruppe in Gang gesetzt wurden, die von ihnen profitierte, und deren Nachfahren sich die Jahrtausende hindurch unentwegt rühmen, die Nutznießer von Katastrophen gewesen zu sein, die um ein Haar die ganze Erde und die Bewohner in Asche verwandelt hätten." Ein gewisser Hang zum Größenwahn ist in allen Schriften Velikovskys zu finden. Ob das wirklich alles erklärt, lasse ich offen; es erklärt im Freudschen Sinne den Teil, den der Autor in diesem Buch bespricht: Wenn es einen Gott gäbe, der im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten die Erde mit Katastrophen heimsuchte, dann wären die zum Bund mit dieser Gottheit verpflichteten Auserwählten die Nutznießer dieser Vorgänge. Das könnte als magisches Denken einer früheren Kulturstufe durchaus literarischen Niederschlag in der Bibel gefunden haben, doch für Rückschlüsse auf kosmische Vorgänge ist das ungeeignet, wenn nicht andere Hinweise mit herangezogen werden können, die aus diesen biblischen Anekdoten ein kohärentes Muster ableiten lassen. Einseitige, von religiöser Erziehung geprägte Gedanken lenken von der wissenschaftlichen Erneuerung der Katastrophentheorie ab und haben außerdem zur Folge, daß die Bibeltexte unkritisch als Beweisgrundlage übernommen werden, wo sie dergleichen nicht hergeben. So bleibt die Grundthese, nämlich daß unser Vergessen der Katastrophen religiös manipuliert wurde und verantwortlich für weiteres irrationales Verhalten ist, durchaus diskutabel, wenn sie auch auf andere Beine gestellt werden müßte, um in einer aufgeklärten Gesellschaft möglichst sachlich diskutiert zu werden. Uwe Topper,
Berlin, September 2005 |
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