Hocharts Untersuchung des Tacitus
Uwe Topper
Berlin, Mai 2001
Teilweise Übersetzung des Buches: De l’authenticité des Annales et des Histoires de Tacite (Paris 1890) von Polydore Hochart
Hochart, Polydore :
De l’autenticité des annales et des histoires de Tacite (Paris 1890)
Übersetzung : Uwe Topper
Über die Echtheit der Annalen und der Historien des Tacitus
Dieser Artikel ist kommentiert worden
Vorbemerkung
von Uwe Topper

 

Am Beginn der neuen kritischen Geschichtsschreibung in Deutschland stand zunächst die Arbeit von Wilhelm Kammeier als Leitfaden, und deshalb trug mein erstes Buch zum Thema den von Kammeier geprägten, für mich nicht recht passenden Titel „Die ‚Große Aktion’“ (1998). Schrittweise hatte ich weitere Geschichtsanalytiker und Kritiker verarbeitet, darunter Franzosen in der Nachfolge von Hardouin, wie Launoy und Germon, ferner Spanier und Portugiesen aus der Zeit der Aufklärung. Der Name P. Hochart war dabei mehrmals aufgetaucht, jedoch gelang es mir nie, sein grundlegendes Buch  von 1890 zu finden.

In den gängigen Lexika tauchte er ebensowenig auf. Sein englischer Vorgänger J. W. Ross schien ohnehin völlig verschollen zu sein. Die Hyperkritiker, wie man sie abfällig nannte, hatten nur wenig Einfluß gehabt und waren bald wieder durch kirchentreue Autoren verdrängt worden.

So möchte ich es als außerordentlichen Glücksfall bezeichnen, daß Ewald Ernst dieses lange gesuchte Buch in Amsterdam aufgestöbert und -was besonders dankenswert ist - Gert Meier eine elektronische Fassung davon angelegt hat. Damit ist es leicht zugänglich und trägt als Grundlage zu unserer Arbeit bei.

Da nicht alle unsere Mitarbeiter Französisch mit Leichtigkeit lesen, habe ich einige wichtige Partien des Buches ins Deutsche übertragen. Das Buch ist ja recht umfangreich (ohne den Anhang, der Poggios Briefe enthält, umfaßt es schon etwa 240 Seiten), darum werden meine Auszüge und Zusammenfassung manchem deutschen Leser willkommen sein.

Darüber hinaus habe ich mir erlaubt, einige kritische Gedanken anzufügen, denn ein vor fast 120 Jahren erschienenes Buch kann heute ebenfalls kritisiert werden, ohne daß dessen Wert damit geschmälert würde.

Im Zusammenhang mit Tacitus hatte ich mir dessen Germania beispielhaft vorgenommen und nur am Rande den für England verfaßten Agricola, ohne die römischen Annalen und Historien zu betrachten, denn für uns ist eben doch das Tacitus-Werk über Deutschland von besonderer Wichtigkeit. Im Mai 1996 hielt ich darüber einen Vortrag in Hamburg mit dem provozierenden Titel: Wer hat eigentlich die Germanen erfunden?, der nicht bei allen Zuhörern Wohlwollen auslöste. Der Germanen-Begriff ist ja mit viel emotionalem Ballast behaftet und daher kaum wertfrei zu diskutieren.

Insgesamt stellte ich als Ergebnis vor, daß Poggio Bracciolini und Nikolaus Cusanus die Hersteller des Germania-Textes waren, doch hatte ich schon leise Zweifel, ob die dazugehörigen Daten der Entstehung (1427 bis 1430) stimmen können, denn erst 1455 taucht diese Schrift in Rom auf und erst 1501 (oder 1505) wird sie in Deutschland bekannt (summarisch wiederholt in meinem obigen Buch 1998, S. 48 f). Auf dieses Problem der Datierung gehe ich am Schluß noch ein.

Hochart hatte sich nicht mit den sogenannten kleineren Schriften (Germania und Agricola) des Tacitus abgegeben, sondern kühn dessen Hauptwerk über die römische Geschichte untersucht und war zu dem Schluß gekommen, daß es von Poggio geschrieben sein muß. Hochart beruft sich ausdrücklich auf Hardouin und auf Ross als Vorgänger in seiner kritischen Arbeit. Ross (dessen Buch 1878 in London erschienen war, aber mir bisher nicht zu Händen gekommen ist) ließ sich unter anderem über die Alliterationen aus, eine Art Stabreim, die eine Generation später auch Baldauf verdächtig vorkam: Im Latein macht diese Form keinen Sinn, sie kann nur aus der älteren deutschen Dichtung herübergenommen worden sein.

Außerdem hatte Hochart das englische Buch von Edwin Johnson, Antiqua Mater, gelesen, das gerade anonym erschienen war. Er kannte zu dem Zeitpunkt wohl nicht den Autor, und gewiß nicht dessen späteres bedeutenderes Werk über die Paulus-Briefe.

Zur Person von Polydore Hochart konnte ich bisher wenig in Erfahrung bringen. Er ist 1831 in Bordeaux geboren und war Lehrer für Französisch an einer höheren Schule in Bordeaux. Dort ist auch sein Buch gedruckt worden, der Verleger war Ernest Thorin in Paris.

Obgleich Hochart schon vorher einige hochinteressante, ja brisante Bücher über Seneca und die vermeintlichen Christenverfolgungen unter Nero veröffentlicht hatte, wurde doch seine Untersuchung der Echtheit der Schriften des Tacitus wenig beachtet. Vermutlich war das die damals einzig mögliche Reaktion, um eine Diskussion zu vermeiden. Sein Brief an einen Abbé, ebenfalls veröffentlicht im selben Jahr, faßt noch einmal einige Punkte zusammen und erweitert sie um neue Beweise.

Daraus kann man schließen, daß die Arbeit nicht völlig unbemerkt blieb, sondern – allein schon auf Grund der offensichtlichen Gelehrtheit des Autors – absichtlich ins Vergessen befördert wurde. Es gibt noch heute unaufgeschnittene Bände von Hochart im Handel. Als Hilfe für weitere Nachforschungen könnte dienlich sein, daß Hochart einige seiner frühen Schriften unter dem Pseudonym H. Dacbert veröffentlicht hat. Wann er starb, ist mir nicht bekannt.

In Verteidigung seiner Thesen bringt Hochart im Laufe seiner Schriften immer stärkere Argumente; er bleibt stets höflich, wird sich seiner Sache auch zunehmend sicherer. Dennoch hat er einen Durchbruch nicht erlebt. Zur Rezeption seines Buches über Tacitus habe ich folgendes herausgefunden:

Arthur Drews hat sich in beiden Bänden seiner Christusmythe (1910 u. 1911) viele Seiten lang mit Hochart (und vielen ähnlichen Kritikern) beschäftigt und gibt der Kritik grundsätzlich Recht. Zwar ging es ihm zunächst um die Seneca-Stelle bezüglich der Christenverfolgungen, aber sein begründeter Zweifel an allen diesen antiken Schriften, besonders an den Annalen des Tacitus, spricht doch offen heraus. Franklin Arnold hat schon 1888 Hocharts Seneca besprochen und ihn keineswegs widerlegt.

Ein gewisser Andresen hat in einer Zeitung nicht nur das Buch von Hochart zu Seneca besprochen, sondern auch das (hier betrachtete) sechs Jahre spätere über Tacitus, was mehrere Theologen aufmerksam machte. Drews nennt in diesem Zusammenhang (Bd. II: Die römischen Zeugnisse) als Geschichtskritiker auch ausdrücklich die beiden erwähnten Engländer Ross und Johnson, sowie die Amerikaner W. B. Smith und J. M. Robertson. Warum man nun damals in Deutschland nicht in dieser Richtung von Bruno Bauer und Arthur Drews in großem Maßstab weitergeforscht hat? Ach ja, ab 1914 hatte man ganz andere Probleme. Der Bibel-Babel-Wortstreit wurde mit Eisen zugedeckt und niemehr wieder ausgegraben.

Beim Lesen dieser klaren Analyse Hocharts fühle ich mich in meinen Vermutungen bestätigt und wünsche schon aus diesem Grund dem Buch von Hochart größere Verbreitung.

Damit der Leser besser zwischen meiner Zusammenfassung und den wörtlich übersetzten Teilen des Werkes unterscheiden kann, habe ich zwei verschiedene Schrifttypen gewählt. Die Anmerkungen, die nur literarische Hinweise bringen, habe ich ausgelassen; nur wo der Anmerkungstext wesentlich ist, habe ich ihn zugefügt.

Teil 1
Die Entdeckung der Annalen und Historien des Tacitus
Kapitel 1
Die Entdeckung von Literatur im 15. Jh.

von Polydore Hochart (Übersetzung von Uwe Topper)

Die Suche nach Manuskripten

Obgleich im 15. Jh. Europa durch Kriege und politische Umstürze jeglicher Art aufgestört wurde, förderte doch jede Nation, jede Stadt die Wissenschaften und Künste; jeder wollte die Geschichte seines Landes wiederherstellen, wollte hervorragende Wissenschaftler und Künstler besitzen. Dichter, Juristen, Gelehrte wurden von allen Fürsten, allen Republiken gerufen, wurden mit Ehren und Geld überhäuft.

Die Suche nach alten Manuskripten, Medaillen und Inschriften wurde folglich zu einem einträglichen Beruf; sie unterzubringen wurde einfach, denn überall bildeten sich Sammlungen, Museen und Bibliotheken. Bald gab es überall Reisende auf der Suche nach Antiquitäten.

Angestachelt von Profitgier gab es auch Händler, die nach dem Beispiel von Cyriaque von Ancona solchen Handel zusammen mit dem von Wolle und Seide betrieben.

Was aber am meisten einbrachte im 15. Jh., was am besten mit klingender Münze bezahlt wurde, das waren die alten Manuskripte. Jede Persönlichkeit, die sich rühmte, eine reiche Bibliothek zu besitzen, mußte dafür auch einige Raritäten vorweisen.

Unter den vielen Namen zitieren wir den des Kardinals Orsini. Poggio, von dem wir noch des längeren sprechen werden, bewegte ihn dazu, die Kommödien des Plautus zu kaufen, die – wie er sagte – ein gewisser Nikolaus von Trier in Deutschland (wenn man auch nicht weiß wo) beschafft und nach Rom gebracht hatte. Der Kardinal wachte eifersüchtig über seine Erwerbung; er wollte nicht, daß jemand darüber spräche, nicht einmal Poggio, den das ärgerte; er ließ davon einige wenige Abschriften herstellen, die er als kostbare Geschenke an Leonello d’Este und einige andere italienische Fürsten vergab.

Als Leo X die ersten handschriftlichen Bücher der Annalen des Tacitus bekam, behielt er sie nicht für sich, wie wir sehen werden, sondern machte sie sogleich der Öffentlichkeit zugänglich.

Der Papst bezahlte für die Fragmente des Tacitus 500 Sekinen, also etwa die Summe von 6.000 Goldfranken; das war für jene Zeit fast ein Vermögen. Daraus kann man schließen, wie fruchtbringend das Auftreiben von Manuskripten war.

Um zu erklären, wie es kommen konnte, daß so viele Werke lateinischer Schriftsteller den Gelehrten der vergangenen Jahrhunderte unbekannt geblieben und durch die Forscher der Renaissance zutage gefördert worden waren, sagte man, daß die Mönche gewöhnlich den größten Teil dieser heidnischen Manuskripte, die sich in ihren Bibliotheken befunden hatten, in die Speicher oder Keller ihrer Klöster abgeschoben hatten. So kam es, daß die Manuskriptentdecker manchmal im Abfall, ja im Dreck – wenn man sie überhaupt da suchen ließ – die Meisterwerke der Antike fanden. Poggio und Bartholomäus von Montepulciano beteuerten, sie hätten ihre Funde in St. Gallen am Grunde eines dunklen und feuchten Turmes gemacht, wohin man nicht einmal einen zum Tode Verurteilten geworfen hätte.

Nichts schien glaubwürdiger zu sein, so groß war die Sorglosigkeit der Klöster hinsichtlich allem, was mit Literatur und Wissenschaften zu tun hatte.

Rambaldo, genannt Benvenuto von Imola, einer von denen, die beruflich die Werke von Dante und Petrarca in den Städten Italiens öffentlich vorlasen, berichtet, in welch beklagenswertem Zustand sich im 14. Jh. die Bibliothek eines der für seine Kultur am meisten gelobten Klöster, dem von Monte Cassino, befand.
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Bracciolino Poggio (aus: Hochart, Annales)

Wie man sich erinnert, hat Dante im XXII. Gesang des Paradieses die Begegnung mit dem hl. Benedikt geschildert, wobei der Gründer dieser Abtei ihm gesagt habe: „Meine Mönchsregel ist nur noch ein wertloses Papier.“ Und Rambaldo schrieb in seinen Kommentaren zur Göttlichen Kommödie bezüglich dieser Verse: „Um diese Sätze besser zu verstehen, möchte ich wiedergeben, was mein verehrter Meister, Bocaccio von Certaldo, mir freundlich erzählt hat. Er sagte, daß er, als er in Apulien war, von dem Ruhm des Klosters Monte Cassino angezogen, von dem Dante spricht, sich dorthin begab. Er verlangte von einem Mönch, die Bibliothek, von deren Pracht er schon soviel gehört hatte, besuchen zu dürfen und bat ihn mit der ihm eigenen Höflichkeit, ihm die Tür zum Saal aufzuschließen. Der aber zeigte auf eine lange Leiter und sagte in mürrischem Ton: Steigt nur hinauf, sie ist offen! Freudig kletterte er sogleich hinauf und wundert sich zunächst, daß der Ort, an dem er so viele kostbare Schätze vermutete, ohne Tür und Schloß sein solle. Er tritt ein. Das Kraut sprießt auf den Fenstersimsen, die Bücher auf den Regalen sind bedeckt von einer dicken Staubschicht. Erstaunt öffnet er ein Buch und ein nächstes. Es gab recht viele, und verschiedenster Art, alte und fremde; aber einigen fehlte der Deckel, andere waren am Rand beschnitten; alle waren in der einen oder anderen Weise beschädigt. Schließlich kamen ihm die Tränen, weil die Ergebnisse der Mühen und Studien von so vielen berühmten Genies in die Hände nichtsnutziger Leute gefallen waren, und so stieg er hinab. Einen Mönch, den er im Hof traf, fragte er, warum so wertvolle Bücher so schändlich beschädigt worden seien. Dieser sagte, daß einige der Brüder die Deckel zerstückelt hatten, um kleine Psalter für Kinder daraus zu machen, was ihnen zwei oder fünf Sous einbrachte; andere nahmen die weißen Ränder der Blätter, um Amulette daraus herzustellen, die sie den Frauen verkauften.“Worauf Benvenuto ausrief: „Zerbrich dir den Kopf, o Wissenschaftler, um Bücher zu schreiben!“

Hatten es sich die Mönche zur Aufgabe gemacht, die Werke der heidnischen Autoren abzuschreiben?

Kann es sein, daß die Handschriftenhändler in den Klöstern so viele Funde gemacht haben, wie sie vorgaben? Und hatten die Mönche aus reiner Liebe zur Wissenschaft es sich zur Pflicht gemacht, die Meisterwerke der Antike für die Nachwelt zu bewahren, zum höheren Ruhm des Heidentums?

Hinsichtlich der fast völligen Zerstörung der etruskischen Zivilisation hatte Machiavelli folgende Überlegungen angestellt (im Diskurs über Titus Livius, Buch II, Kap. V):

„Den Philosophen, die behauptet hatten, die Welt bestehe ewig, hatte man geantwortet, daß, wenn das wahr wäre, die Erinnerung mehr als fünftausend Jahre zurückreichen müßte. Diese Folgerung wäre richtig, wenn man nicht sähe, wie die Erinnerung an frühere Zeiten sich durch verschiedene Vorkommnisse verliert und zerstört. Derartige Geschehnisse gehen teils auf Menschen zurück, teils auf den Himmel. Vom Menschen werden die Änderungen der Religion und der Sprache bewirkt. Wenn eine neue Sekte, das heißt eine neue Religion, auftritt, ist es ihr erstes Anliegen, die alte zu zerstören, um sich Ansehen zu verschaffen; und wenn die Gründer dieser Religion eine andere Sprache sprechen, gelingt es ihnen ganz leicht.

Diese Wahrheit findet man, wenn man sich die Art anschaut, wie die christliche Religion gegen die heidnische vorgegangen ist. Sie hat alle Einrichtungen zerstört, alle Riten und sogar die kleinste Erinnerung an die alte Theologie ausgelöscht. Allerdings ist es dem Christentum nicht gelungen, uns auch die Kenntnis der herrlichen Taten großer Männer, die unter dem Heidentum blühten, zu rauben. Aber das muß man der Notwendigkeit zuschreiben, die lateinische Sprache zu bewahren, um das neue Gesetz zu verbreiten, wie man aus den Verfolgungen schließen kann, die die Heiden von den Christen erdulden mußten. Hätten sie dafür eine neue Sprache verwendet, dann wäre keine Spur früherer Geschehnisse mehr erhalten geblieben.

(In dem Machiavelli-Zitat finde ich (U.T.) bemerkenswert, daß zwei Gründe für die Vernichtung der Überlieferung genannt werden: die Menschen und der Himmel. Den ersten Grund, also die Menschen, dürfen wir auf die Inquisition beziehen, wie die nachfolgenden Sätze bezeugen, aber der Himmel - kosmische Katastrophen - wird nicht weiter erwähnt.)

Man betrachte das Verhalten von Gregor dem Großen und der übrigen Häupter des Christentums: mit welch sturer Ausdauer sie sich bemühen, alle Denkmäler der Götzendiener zu vernichten! Sie verbrennen die Werke der Dichter und Historiker; sie zerstören die Statuen und Tafeln; sie verändern oder schaffen alles ab, was irgendwie an die Antike erinnern könnte. Wenn sie sich zur Unterstützung ihrer Anstrengungen einer anderen Sprache bedient hätten, wäre in kürzester Zeit die gesamte alte Literatur verschwunden.“

Was Machiavelli hier über die systematische Zerstörung der religiösen und literarischen Denkmäler des Heidentums durch die christlichen Kleriker mitteilt, wird von Johannes von Salisbury bestätigt. Er bringt eine gesicherte Überlieferung, daß St. Gregor die Bibliothek auf dem Palatin in Rom verbrennen ließ und die Vernichtung der weltlichen Bücher befahl.

Dieser dem Papst angelastete Vandalismus wurde angezweifelt. Was uns nun heute beschämend vorkommt, war ganz im Gegenteil im 6. Jh. eine natürliche, ja verdienstvolle Angelegenheit; entsprechende Maßnahmen wurden durch die Umstände selbst diktiert. Sehen wir nicht zu allen Zeiten und an allen Orten bei jeder politischen, gesellschaftlichen oder religiösen Umwälzung die siegreiche Partei versuchen, alles zu zerstören, was an die Ehre der besiegten Partei erinnern oder ihr Gedächtnis fortsetzen könnte, ihr Bedauern und ihre Hoffnung auf eine Erleichterung?

In seinem Lobeshymne auf St. Gregor zeigt uns der Pater Maimbourg, welche Gefühle den Papst bewegten „Didier“, sagte er, „der Bischof von Vienne, war ein Mensch von großen Verdiensten, besonderem Wissen und leuchtender Tugend, dem St. Gregor mehr als einmal mit Bewunderung geschrieben hatte, und ihm dennoch Vorhaltungen machen mußte, als wären sie Verbrechen, weil er sich bemühte, einigen seiner Freunde die Grammatik und die humanistischen Wissenschaften beizubringen und ihnen die Dichter zu erklären. Er versichert ihm, daß ihn diese Nachricht dermaßen traurig gestimmt habe, daß alle Freude, die er durch die Mitteilung vom Fortschritt seiner Studien und den großen Fähigkeiten verspürte, plötzlich in Traurigkeit ungeschlagen war, „weil“ – sagte er ihm – „die Loblieder auf Jupiter und auf Jesus Christus nicht aus demselben Mund stammen dürfen. ...“
Pater Maimbourg machte bei diesen Vorhaltungen eine Kehrtwendung...

(Der Text ist hier ausufernd, ich kürze ab, Hochart fährt fort:)

Die Gedanken, die der gelehrte Jesuit des 17. Jh.s hier ausdrückt, sind jene, die die christliche Kirche zu allen Zeiten gelehrt hat.

Sogar der hl. Hieronymus selbst fürchtete die ansteckende Begeisterung für die weltliche Literatur so sehr, daß er, um seine Getreuen zu erbauen und sie von diesen Studien abzuhalten, von einer Vision erzählte, die er in einer Lethargie gehabt habe, in die ihn ein heftiges Fieber geworfen hatte. „Da fühlte ich mich im Geist vor das Gericht des höchsten Richters gebracht, der von einer so lebendigen und blendenden Helligkeit umgeben war, daß ich auf den Boden gestürzt meine Augen nicht erheben konnte. Eine Stimme fragte mich, wer ich sei ...“ (usw. es folgt wieder eine penetrante Legende mit dem Sinn, die Gläubigen von der Lektüre der ausländischen und teuflischen Texte abzuhalten.)

(Ich unterbreche die wörtliche Übersetzung und fahre auf S. 14 wieder fort):

Verdienen die meisten Handschriftenhändler wirklich Vertrauen?

Pater Hardouin vertrat die Meinung, daß die gesamte lateinische Literatur, abgesehen von einigen ganz wenigen Ausnahmen, nicht vor dem 13. Jh. geschrieben sein könne; daß sie in den Klöstern der Benediktiner unter der Leitung eines Severus Archontus verfaßt worden seien, der nach lateinsichen Wort severus, streng, verbunden mit dem griechischen Wort Archonte, genannt wurde, was den ersten Magistrat in Athen bezeichnete. Obgleich er einige Gründe für diese Behauptung anführte, hat er sie doch nicht bewiesen. Er schrieb die Ehre den Benediktinern zu, bemerkenswerte Werke zum höchsten Ruhm des Heidentums geschaffen zu haben. Das ist nicht anzunehmen. Die Mönche waren dazu gar nicht fähig; und wenn sie es gewesen wären, hätten sie nicht das geringste Interesse daran gehabt. Dennoch ist Pater Hardouin nicht völlig zu verachten, denn er hat manches begründeterweise gesagt.

Daß die Benediktiner die Schriften eines Tertullian, der hl. Hieronymus, Ambrosius, Augustin und anderer Kirchenschriftsteller verändert haben, ihnen Gedanken und ganze Werke untergeschoben haben, die nicht die ihren waren, in diesem Punkt hat Pater Hardouin wahrscheinlich Recht. Anders steht es mit dem betrug der weltlichen Literatur. Diese können nur von Leuten der Renaissance stammen, glauben wir. Diese haben im allgemeinen vorgegeben, die vorgelegten Handschriften in Klöstern gefunden zu haben; die Mönche haben es schließlich selbst geglaubt, und wenn es darum ging, Ehre einzulegen, haben sie sich gebrüstet, das aufbewahrt zu haben, was sie einstmals stolz vernichtet hatten.

Den Männern, die sich im 15. und 16. Jh. dem Studium der Antike widmeten, fehlte sicher weder Talent noch Wissen; ihr Verdienst war groß; und die Nachwelt schuldet ihnen Dank für den Dienst, den sie der Wissenschaft geleistet haben. Leider sie waren nicht alle von unbestechlicher Moral. Filelfo, Valla, Cyriaque d’Ancona und eine Anzahl weiterer verdienen nur mittelmäßiges Vertrauen.

Die Handschriftenhändler boten den Fürsten, Prelaten und reichen Bankiers ihre Antiquitäten an, nur diese konnten sie bezahlen. Doch diese edlen Käufer waren keine Experten in dieser Angelegenheit; selbst unter den Gelehrten war der kritische Geist wenig ausgebildet. Mußte die Versuchung zum einträglichen Betrug nicht groß sein? Wie sollte man dem widerstehen? Sogar die Medicis und andere Gönner der Wissenschaften wurden oft hereingelegt.
Die Handschriftenhändler hatten verschiedene Methoden, Neues als Altes auszugeben.

So kam es vor, daß die Buchstaben auf einem alten Pergament teilweise verschwunden war, daß die Buchstaben mißgestaltet waren oder daß die Schreiber grobe Fehler gemacht hatten. Sie waren daher unleserlich oder unverständlich für die meisten Leute; der Leser mußte tatsächlich festes Wissen in alten Schriften mitbringen und das Thema kennen; und das reichte nicht immer aus. Er mußte zuweilen mit Inspiration oder Eingebung begabt sein (wie Poggio in einem seiner Briefe schrieb). Eine Abschrift eines fähigen Interpreten hatte größeren Wert als das Original selbst.

So war z.B. das Manuskript, das die drei Bücher von Cicero über die Rhetorik enthielt, von denen man nur einen Ausschnitt kannte, sozusagen nicht entzifferbar, sowohl wegen der Handschrift selbst als auch wegen des Verfalls des Pergamentes. Ein junger Mann mit großen Fähigkeiten, Cosimus von Cremona, gab als erster vor, den Text gelesen zu haben und ihn wiederzugeben. Es handelte sich demnach um eine Deutung, von der man nicht sicher sein konnte, daß sie authentisch und rein den Cicero brachte. Flavius Blondus, der sich damals in Mailand befand, hatte Wind davon bekommen; er beeilte sich, eine Arbeitskopie von Cosimo zu erhalten, dem Guarino von Verona weiterzuleiten, dann dem Leonardo Giustiniani von Venedig, so daß, wie er sagte, „Italien in kurzer Zeit zahlreiche Exemplare besaß.“

Wenn diese Ausdeutungen eines Werkes eines so großen römischen Schriftstellers so leicht akzeptiert wurden, war der Weg dann zu weit, einige Bände unter seinem Namen zu verfassen?

Es war nicht einmal nötig, das antike Manuskript, das man entziffert hatte, vorzuzeigen. War es nicht ein wertloses Stück geworden, unnötig aufzubewahren, sobald es durch einen korrekten und lesbaren Text ersetzt worden war, und später durch die gedruckte Fassung?

Außerdem legte man großen Wert auf scheinbare Echtheit für ein gefälschtes Werk, indem man es durch einen Schreiber abschreiben ließ, der die langobardischen oder karolingischen Buchstaben beherrschte; man versah das Pergament auch mit der nötigen Patina, die ihm den Charakter eines uralten Stückes verlieh.

Verdanken wir nicht einigen dieser Humanisten die „Facetten“ des Tacitus, die „Berühmten Männer“ des Plinius sowie weitere Arbeiten, die, obgleich sie einmal als echt anerkannt waren, heute doch unter die Fälschungen eingereiht werden? Und dazu gehört auch, glauben wir, das X. Buch der Briefe von Plinius dem Jüngeren (wie Hochart in seinem Werk über die Christenverfolgungen unter Nero im Kap. IV erklärt).

(S. 17, Ende der wörtlichen Übersetzung)

Teil 2, Kap. I
Untersuchung der beiden archetypischen Manuskripte
von Polydore Hochart (Übersetzung von Uwe Topper)

Schriftform und Pergament – Titel – Unterteilungen

Schriftform und Pergament

Alle Handschriften, die die sechs letzten Bücher der Annalen und die fünf ersten der Historien des Tacitus enthalten, sind –  wie wir gesehen haben –  jünger als der Kodex Medici 2, den Poggio und Niccoli in Händen hatten; sie sind entweder direkt oder indirekt von diesem abgeschrieben. Andererseits gibt es und gab es nur ein einziges Manuskript der sechs ersten Bücher der Annalen, das als alt gilt, nämlich den Medici 1.

Bedenkt man, wie wichtig das Werk des Tacitus war und welche Autorität es beanspruchte, sowie an die Theorien, die darauf aufbauen, sieht man ein, daß eine Bestimmung des Wertes dieser Dokumente nötig ist. Es ist mehr als recht, es ist eine Pflicht, die sich jedem wissenschaftlichen Geist aufdrängt, aufmerksam zu untersuchen, ob es sich um echte Bruchstücke des berühmten römischen Schriftstellers handelt, die Poggio und Niccoli der Öffentlichkeit übergeben haben und von denen ein Nachtrag später (Papst) Leo X gebracht wurde.

Nach Untersuchung der Schriftform wollte Ernesti das Datum des zweiten Medici  ins 11. Jh. verweisen; andere gaben vor, er stamme aus dem 7. oder gar 6. Jh., aber die Form der langobardischen Minuskel, der Abstand zwischen den Wörtern, die Abkürzungen und die Zeichensetzung, die wir vorfinden, waren vor dem 10. oder 11. Jh. nicht in Gebrauch. Daher erklären die Autoren des Nouveau Traité de diplomatique, daß es nicht möglich sei, daß sie vor jener Zeit geschrieben sein könnten. An den schon gebrachten Fotografien einiger Seiten kann sich der Leser selbst davon überzeugen.

Allerdings fehlen Anfang und Ende des Werkes, wie man weiß. Man sagt, daß man in den Klöstern des 11. Jh.s die historischen Studien mit mehr Sorgfalt betrieb als in späterer Zeit, und also durch Sorglosigkeit später verderben ließ, was die Mönche einer früheren Zeit mit soviel Mühe der Nachwelt erhalten wollten. Das wird schwer zu beweisen sein.
Textseite aus dem Tacitus-Manuskript Medici 1 (Florenz)
Will man aber zugeben, daß die Mönche mit frommem Sinn profane Geschichtswerke abschrieben, wie kann man dann erklären, daß mehrere Kapitel nicht fertig geworden sind? Das Ende der Annalen war nicht verloren gegangen, wie man allgemein angenommen hatte. Die Arbeit blieb unvollendet. Auf der letzten Seite ist die erste Kolonne nur zu ungefähr zwei Dritteln geschrieben; das nachfolgende Kapitel beginnt unmittelbar danach; keine einzige Notiz weist daraufhin, aus welchem Grund der plötzliche Abbruch geschah. (Zum Beweis fügt Hochart zwei Fotografien bei, die in dieser Kopie des Buches leider fehlen.)

Schließlich haben einige Paläographen begründeter Weise zu erkennen geglaubt, daß das Pergament deutliche Anzeichen einer Herstellung im 15. Jh. aufweist (Anm. Ross, Tacitus and Braccioloni, S. 325).

Der Kodex Medici 1 ist in karolingischer Schrift geschrieben. (Hierzu ein Foto der ersten Seite). Wie man sieht, sind die Buchstaben sehr schön ausgeführt.

Das reichte aus, um dem Kodex ein sehr hohes Alter zuzuschreiben. Fantasiebeflügelt hat man folgende Legende dazu geschaffen: Man gab vor, daß er Teil der Bibliothek war, die Amschaire, der berühmte apostolische Gesandte von Gregor IV in Dänemark und Schweden, dem man die Ehre zuschreibt, den Norden Europas im 9. Jh. christianisiert zu haben, von Italien nach Deutschland gebracht hatte.

Das Manuskript ist jedoch zunächst nicht hoch eingeschätzt worden. Man schätzte seine Entdeckung als kostbar, weil dies erlaubte, einen Teil der Werke des Tacitus zu rekonstruieren. Aber der Band selbst wurde als ziemlich mittelmäßig und voller Fehler eingestuft. (Anm. Ph. Beroaldus ...)

Ist es wirklich möglich, das Alter eines Werkes an der Form der Buchstaben und der Güte des Pergaments zu beurteilen?

Die Mönche hatten eine recht gute Hand, um die alten Buchstaben ordentlich zu zeichnen, behaupten die Autoren des Nouveau Traité de diplomatique. Aber man kann doch keine Schlüsse ziehen, sagen sie. Und damit haben sie vollkommen recht. Man muß jedoch nicht grundsätzlich zugeben, daß sie über jeden Zweifel erhaben sind.

Dieselben Autoren sagen weiter: „Wir sehen nicht, daß die Schrift vor der Mitte des 15. Jhs. nachgeahmt worden sei. Während der Wiedergeburt der Literatur unternahm man tatsächlich gewisse Anstrengungen, um die Majuskeln der Überschriften und die Minuskeln des Textes der Abschriften denen des 9. Jhs. anzugleichen.“ Und weiter: „Pater Germon hat die langobardischen Schriftzeichen nicht verschont. Er hält sie für eine Fälscherschrift. Auch Richard Simon hat sich vorgestellt, daß die Hochstapler sich die Mühe machten, die langobardische Schrift zu fälschen und so nicht nur Diplome sondern sogar ganze Bücher zu schreiben.“

Man sollte schließlich, glauben wir, anerkennen, daß die Paläographen des Jesuiten- und des Predigerordens nicht ganz Unrecht hatten, und daß viele dieser Handschriften mit großem Können ausgeführt wurden. (Anm. U.T.: zu Germon siehe Topper 1998, Kap. 12).

Aber die Mönche waren nicht die einzigen berufsmäßigen Abschreiber, auch die Laien haben großen Anteil an Verantwortung in dieser Sache; denn nachdem sie den Klöstern starke Konkurrenz gemacht hatten, konnten sie sie schließlich ersetzen.

Die Schreiber beherrschten die Kunst perfekt, ihren Schriften ein antikes Aussehen zu geben, ganz gleich ob sie zu religiösen Orden gehörten, Angestellte der Universitäten oder im Dienst von Privatpersonen waren. Für die Art der Buchstaben, die in ihrer Zeit außer Gebrauch gekommen waren, besaßen sie Regeln und Vorbilder, die sie von einer Generation zur nächsten weitergaben.

So gab es im 9. Jh. einen Loup de Ferrières, der Eginhard bat, Bertcaudus, den Schreiber des Königs, zu bitten, ihm ein genaues Muster der alten Schrift, die man Unziale nennt, zu schicken.

Im 15. Jh. bedienten sich Niccoli und Poggio für die Abschriften lateinischer Autoren, die sie herausgaben, statt der allgemein für Handschriften verwendeten gothischen Lettern die langobardischen; aber sie benützten vor allem die schönen Formen der alten römischen Buchstaben, die unter Karl d.Gr. erneuert worden waren, und die man karolingisch nennt. Deren Gebrauch wurde im folgenden fast allgemein; man nannte sie antik, um sie von den langobardischen und gothischen zu unterscheiden.

Niccoli und Poggio wurden zu Meistern der Kalligraphie und hatten in ihrem Dienst fähige Schreiber; sie rühmten sich öffentlich, daß sie sie selbst unterrichtet hatten, karolingisch zu schreiben, und zwar so wunderschön, daß ihre Schrift das Siegel perfekter Antiquität trug.

Verlieren wir nicht aus dem Blick, daß die Briefe, in denen Poggio von der Begabung seiner Schreiber spricht, keineswegs vertrauliche Briefe sind; es sind Sammlungen, die er selbst veröffentlicht hatte. Er hatte also keine Anschuldigungen zu fürchten; was seine Schreiber taten, das taten auch andere; er lobt nur die Überlegenheit der von ihm herausgegebenen Handschriften, um ihren Wert zu erhöhen.

Nicht nur die Berufsschreiber hatten das Verdienst, die antiken Buchstaben nachahmen zu können; die Gelehrten übten sich ebenfalls in dieser Kunst.

Joseph Scaliger erzählt von seinem Vater Julius Cäsar in der zweiten Scaligeriana-Schrift, die halb in Latein, halb in Französisch verfaßt ist: „Vater Scaliger schrieb bestens in Griechisch und in Latein, und zwar in beiden Schriften sehr gekonnt mit allen Häkchen und Schnörkeln trotz seiner Gicht; in alter wie in neuer Schrift. Julius Scaliger hatte sich, als er in der Armee war, in Griechisch geübt und einige Abhandlungen des Galen verfaßt, so gut, daß man sie für fünf oder sechshundert Jahre alt hätte halten können.“

Wenn die Schrift eines Manuskriptes ein archaisches Aussehen hat, muß man nicht gleich auf eine betrügerische Absicht seitens des Schreibers schließen; so wenig wie man die Ehre eines Architekten angreifen sollte, der eine Kirche im römischen oder gotischen Stil repariert oder erbaut. Die archaische Schrift wurde sehr häufig vom Schreiber durch die Kunden gefordert, die dem Werk seine überlieferte Form bewahren wollten oder eine, die durch die Mode zu Ehren gekommen war.

Als Beweis für das Können der Kalligraphen der Renaissance können die Abschriften des Tacitus selbst herhalten.

Diejenige der königlichen Bibliothek von Buda(pest), zum Beispiel, um nur eine der wichtigsten zu zitieren, ist doch in ganz archaischen Lettern verfaßt. Geschrieben in kleinen römischen, ein wenig abgerundeten Lettern auf feinem Pergament im Format in-folio, hat sie die besten Paläographen in die Irre geführt. Hatten sie ihr nicht lange Zeit ein hohes Alter attestiert? Und doch war sie mitten im 15. Jh. aus der Feder eines Schreibers gekommen. Beachten wir, daß dieser keinen Betrug vorgehabt hatte und niemanden täuschen wollte; er war von (König) Matthias Corvinus dafür bezahlt worden. Ein Hinweis am unteren Rand der ersten Seite des Bandes bezeugt dies zum Lobe des Fürsten.

Es handelt sich um ein großartiges Manuskript des Tacitus, das Petrus von Medici besaß. Es enthält genau dieselben Teile der Annalen und Historien wie die Abschrift des Niccoli, in karolingischen Lettern, mit sehr eleganten Miniaturen verziert. Dennoch ist es im 15. Jh. geschrieben.

Noch heute befindet sich in der Laurentinischen Bibliothek in Florenz ein Band, in dem man von derselben Hand und in karolingischen Buchstaben geschrieben die neun Bücher der Briefe des Plinius sieht, zusammen mit den fünf ersten Büchern der Annalen. Vom Pergament und der Schrift her hat er ganz das Aussehen eines hohen und gesicherten Alters. Einige von der Arbeit unabhängige Überlegungen lassen erkennen, daß er neueren Datums ist: daß es das einzige Manuskript ist, das Leo X gebracht wurde; sein Auftauchen nach der Veröffentlichung von Bärwald; die Unmöglichkeit herauszufinden, wo es gefunden wurde; seine völlige Übereinstimmung mit dem Kodex Medici1. Hier ist die Absicht vielleicht betrügerisch, denn damals gab es schon Druckereien, und es war überflüssig, Handabschriften eines Tacitus herzustellen.

Wir glauben daher, daß es nicht unmöglich war, daß ein fähiger Kopist der Renaissance ein Werk herstellen konnte, das mehrere Jahrhunderte später das Wissen eines Paläographen in Zweifel brachte.

Die in dieser Sache zu lösenden Fragen sind tatsächlich ganz einfach:

Kannte man in der Renaissance genauso gut wie heute die lateinische Rechtschreibung und die Gestalt der Buchstaben, die in früheren Jahrhunderten üblich war? Das kann man wohl kaum bestreiten. Man kann sogar sagen, daß die Humanisten jener Epoche sie besser gekannt haben sollten. Die Lektüre alter Stilformen war für sie eine alltägliche Beschäftigung; sie hatten sich für ihren persönlichen Gebrauch mit den alten Schriften vertraut gemacht, während die Paläographie heute zu den Spezialwissenschaften gehört und die Handschriften, die diese bewahrt haben, seit dem Aufkommen der Drucktechnik verhältnismäßig selten geworden sind.

Gesteht man dies zu, war es dann für die Schreiber, die gewohnt waren, die Texte, die man ihnen auf Pergament anvertraute in verschiedenen Schriftformen, nach verschiedenen Regeln und Mustern abzuschreiben, über Gebühr schwierig, genau die karolingischen oder langobardischen Buchstaben nachzuahmen? Poggio, soviel hatten wir gesehen, rühmte sich, Angestellte angelernt zu haben, die die alten Schriftformen perfekt schreiben konnten.

(S. 78, Ende des Unterkapitels)

Bemerkungen von Uwe Topper zu Teil 2, Kap. III: Die Bronzetafeln von Lyon

Dies ist ein ganz famoser Trick, erdachte Geschichtswerke zu bestätigen: Man findet Tafeln, manchmal aus Marmor oder gebranntem Ton, am besten aus Kupfer oder Bronze, auf denen Teile des hergestellten Werkes enthalten sind oder dieses ergänzen. Casaubonus hatte eine Bronzetafel mit den Olympioniken hervorgebracht, die glatte eintausend Jahre abdeckten, und vor ihm schon hatte Nanni von Viterbo eine Steintafel mit der Aufschrift „Ich bin Isis ...“ gefunden, um die mehrtausendjährige ägyptische Geschichte der italienischen Stadt Viterbo zu beweisen. Die Bronzen von Granada stehen in derselben Tradition, wie man schon bald nach ihrer Auffindung erkannte, aber dennoch zweihundert Jahre um deren Echtheit stritt.

In Sachen Tacitus hat die Auffindung der entsprechenden Bronzetafel, ein Edikt des Kaisers Claudius für Lyon, eine besondere Komik. Ihr Text stimmt nämlich mit dem von Poggio hergestellten Manuskript nicht überein, sondern bringt genau das, was dort fehlt, und zwar in beiden Richtungen: Was im Tacitus fehlt, steht auf der Tafel, und was auf der Tafel zu ergänzen wäre, steht im Tacitus.

bleitafel

Der Text auf der Tafel ist zwar paläographisch für Laien recht gut gemacht, täuscht jedoch einen Kenner wie Hochart nicht; dafür ist der Inhalt umso lächerlicher, nämlich völlig nichtssagendes Geplänkel wie ein Roman. Als Edikt eines Kaisers undenkbar. Bedauerlicherweise enthält der Text keinen einzigen der drei neuen Buchstaben, die Claudius, wie behauptet wird, dem römischen Alfabet zugefügt hat; das wäre doch ein gar zu schöner Beweis für die Echtheit gewesen, läßt Hochart durchblicken.

Wer dennoch glaubt, daß die „unschätzbar wertvollen“ Bronzetafeln im Museum von Lyon (1890, ob sie wohl heute noch dort stehen zur Belustigung der Besucher?) zur Unterstützung der taciteischen Annalen dienen könnten, nämlich für das für Gallien so wichtige Edikt des Kaisers Claudius, dem zeigt der Autor zwei Abbildungen derselben und bringt die wortgetreue Übersetzung des Textes. Allein schon beim Lesen dieser seltsamen „Erzählung“ muß jeder ernste Historiker das Gruseln bekommen, etwa bei der Schilderung des römischen Geschichtsablaufs von Romulus über Numa, Tarquinius und die Sabiner zu den Etruskern usw., das ganze Arsenal naiver Ahnenregister, wie man es sich in der beginnenden Renaissance dachte.

Gefälschte Bleitafel von Lyon (aus: Hochart, Annales)

Auch die Umstände der Entdeckung (der Tafeln) verdienen genannt zu werden, sagt Hochart. Laut Register der Konsular-Akten der Stadt Lyon wurde im März 1528 bekannt, daß ein namentlich genannter Bauer vor vier Monaten in seinem Weinberg zwei zerbrochene Bronzetafeln hervorgepflügt habe und für die Ablieferung derselben auch belohnt worden sei. Trotz eifriger Suche wurden später nie mehr ähnliche Tafeln oder Bruchstücke dort gefunden. (Beim Pflügen aufgetaucht wie 1903 der Tonziegel mit den eingeritzten Wörtchen CIS RHENUM - diesseits des Rheins, der einen umstrittenen Ausdruck in der Germania des Tacitus stützen sollte und doch sofort als Fälschung aussschied.)

Erst der Vergleich der beiden Texte – Tafeln und Tacitus – bringt die Gewißheit, daß beides Fälschungen sein müssen, sagt Hochart.

Teil 2, Kap. IV
Mehrere Abschnitte verraten den Autor des 15.
Jh.s
von Polydore Hochart (Übersetzung von Uwe Topper)

Geisteshaltung in der Renaissance – Untersuchung einiger Passagen – Feldzug des Germanicus gegen die Cherusker – Übernahmen von verschiedenen Autoren.

Geisteshaltung in der Renaissance

Wir hatten schon Gelegenheit, daran zu erinnern, daß die heidnischen Autoren in der christlichen Gesellschaft nach dem Ende des Römischen Reiches keine Achtung mehr genossen.Während des Mittelalters lernte man die Geschichte der Völker, die außerhalb Judäas wohnten, von christlichen Schriftstellern wie Paulus Orosius und einigen anderen; und außer einigen herausragenden Geistern maß man ihnen auch keine Wichtigkeit mehr bei. Die Gallier, Franken, Goten, Alemannen, Langobarden und die Nachfahren der Römer selbst interessierten sich nur noch für die Taten und Ereignisse des jüdischen Volkes, die alte und einzige Gewähr, sagte man, für die göttliche Wahrheit.

Wenn es demnach schwierig ist, sich vorzustellen, daß man damals in den Klöstern daran gedacht hätte, Tacitus abzuschreiben, wie hätte es dann möglich sein können, daß ein Mönch auf die Idee gekommen wäre, ein größeres Werk unter dessen Namen zu verfassen, das keinen geistigen Zweck erfüllte, keinen religiösen Wert hatte?

Ganz anders jedoch war der Geisteszustand zu Beginn der Wiedergeburt der Wissenschaften. Man las mit Leidenschaft die alten Schriftsteller. Man meinte, daß die Werke der Philosophen, die auf die Natur und den Verstand gründeten, wertvoller waren als die der Kirchenväter. Man erkannte, daß Griechen und Römer etwas geleistet hatten. Man verstand, daß sie in ihren Gesetzen inspiriert waren von Weisheit und Erfahrung, und daß ihre Gesetzgebung viel höher stand als die der Juden. In den seltenen Stücken der griechisch-römischen Zeit, die die Zerstörungen überlebt hatten, suchten die Gebildeten die Grundlagen des Rechts, der Philosophie und der Beredsamkeit, statt in den Prophezeiungen Israels.

(Der Autor Hochart verweist hier auf seine „Studien über das Leben Senecas“ und merkt an:)

In der von Papst Nikolaus V veranlaßten Streitschrift gegen Papst Felix V, den er trotz dessen Abdankung noch fürchtete, drückt sich Poggio folgendermaßen aus: „Was fehlt dir noch, um den Haß und die Verachtung der Menschheit zu verdienen? Welche Ehre kann man mit Verbrechen und Ruchlosigkeit erwerben?“ und fügt hinzu: „Wenn du in den höchsten Schriften der Philosophen gelesen hättest, was die Ehre ausmacht, dann hättest du, der nicht einmal die Quellen kennt, keine derartige Schande begangen.“ So ruft ein Kirchenmann (Poggio), der im Namen eines Papstes gegen einen ehemaligen Papst angeht, der zum Kardinal degradiert wurde, keineswegs nur das Evangelium, sondern auch die Lehren der antiken Philosophen als Maßstab auf.

So war man begierig, die Geschichte dieser Völker zu erfahren, die die alte Welt erobert und zivilisiert hatten. Man suchte überall, sammelte, ordnete, entzifferte, beschrieb Medaillen, Münzen und Steininschriften.

Die Werke eines Tacitus brachten sicher Ruhm und Reichtum dem, der das Glück hatte, sie wiederzufinden und Abschriften davon verbreiten zu können. Mußte es da nicht eine arge Versuchung sein, das gewünschte Objekt, wenn es fehlte, durch eine gekonnte Fälschung, soweit möglich, zu ersetzen?

Untersuchung einiger Passagen

In den Annalen findet man den Widerschein der Renaissance. Kein Schriftsteller kann sich seiner Umwelt, in der er schreibt, entziehen.

Das merkt man zuerst an den Persönlichkeiten, die im Spiel sind. Sie sind fast alle mutig und fähig, aber schurkisch und grausam, mit verdorbenen Sitten. Unter denen, die sich um die Macht im kaiserlichen Rom streiten, und denen, die ihnen folgen, in den schamlosen Prinzessinnen, kann man fast die Männer und Frauen zu Anfang des 15. Jh.s erkennen.

Die Sitten und der literarische Geschmack, die damals herrschten, wiederholen sich in den Beschreibungen der schändlichen Ausschweifungen, die der Autor nicht als unpassend für eine ernste Geschichtsschreibung findet. Man erkennt hier die Feder eines Panormitian, eines Pacifico und vieler anderer.

Die Furcht vor Zauberei, die verderbliche Macht, die ihr zugeschrieben wird, und die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen werden, sind ein weiteres Zeichen der Zeit, in der die Annalen geschrieben sind.

Unter den Cäsaren waren die Männer, die die höchsten Funktionen im Staate innehatten, fast alle in philosophischen Schulen erzogen worden, sie verachteten religiösen Aberglauben. Man übte weder Magie noch Zauberriten aus, kannte keine Vorhersagen, Talismane oder Wundermittel. Im Römischen Reich gab es tatsächlich keine Staatsreligion; alle Priestergruppen hatten gleiche Rechte. Virgil, Horaz, Juvenal, Lukian sowie Plinius, und nach ihnen Plutarch, Lucanus und Apuleius, zeigen uns, wie sie jeder für ihre Sache arbeiten, in völliger Freiheit, nur verantwortlich dem bürgerlichen Gesetz.

Anders war es jedoch, als unter dem Namen Christentum eine Religion sich das alleinige Recht auf Wunder anmaßte und vorgab, um sie zu erhalten, daß die eigenen von Gott stammten, die der anderen von den höllischen Dämonen. Man machte aus der Zauberei ein strafbares Verbrechen, das schrecklichste Leiden und den Tod nach sich zog.

Erwähnenswert ist auch der Fehler, der beim Begriff ludicrum quinquenale auftaucht.

Im XIV. Buch der Annalen steht: „ Als Nero zum vierten Mal mit Cornelius Cossa Konsul war, richtete man in Rom nach griechischem Vorbild die fünfjährigen Spiele ein.“ Das war im Jahr 61 moderner Zeitrechnung. Im XVI. Buch steht jedoch, daß die Zeit der lustralen Feste in das Konsulat von P. Silius Nerva und C. Julius Atticus Vestinus, also ins Jahr 66, fiel.

Es scheint zunächst, daß es nicht anders sein kann, und daß die zweite Begehung der fünfjährigen Festspiele, wie schon der Name sagt, im fünften Jahr nach dem ersten stattfinden müßte. Doch das ist nicht so. Die fünfjährigen Spiele kehrten alle vier Jahre wieder, wie die griechischen, denen sie nachgeahmt waren, ganz allgemein.

Die olympischen Spiele schlossen eine Olympiade und eröffneten zugleich die nächste; entsprechend sagte man, indem man als Rechengrundlage eine tatsächliche Dauer von vier Jahren annahm, Pentaeteris, ‚die fünf Jahre’, für Olympias, ‚eine Olympiade“.

Auch die Römer hatten die Angewohnheit, die Tage vom ersten Tag an zu zählen; unter ‚alle fünf Jahre’ verstanden sie nämlich ‚alle vier Jahre’.

Anm. Hochart: Diese Art, die Jahre zu zählen, führte zu einem seltsamen Irrtum bei den Römern. Ein Jahr vor seinem Tod hatte Julius Cäsar auf Anraten des ägyptischen Astronomen Sosigenes das bürgerliche Jahr mit 365 Tagen festgelegt und bestimmt, daß man alle vier Jahre einen weiteren Tag an den Februar anhängen solle, um Übereinstimmung mit dem Sonnenlauf zu erzielen. Indem Sosigenes sagte: ‚alle vier Jahre’, meinte er Klartext zu sprechen; aber die Priester, die mit der Kalenderreform beauftragt waren, verstanden nach römischer Gewohnheit, daß mit den vier Jahren jedes vergangene Schaltjahr einen Teil der vier kommenden Jahre ausmache, sodaß die Schaltjahre nach jeweils drei Jahren wiederkehrten. Das dauerte 36 Jahre lang, und erst unter Augustus wurde eine neue Reform in Kraft gesetzt.

Diese Tatsache wird durch Censorinus bestätigt, der uns sagt, daß das Lustrum („Fünfjahr“) nichts weiter bedeutete als vier volle Jahre, wie eine Olympiade.

Dieselbe Gewohnheit ist in gewisser Weise auch bei uns noch erhalten. So verstehen wir unter „acht Tagen“ oder „fünfzehn Tagen“ nur sieben bzw. vierzehn Tage. Wenn man einem Franzosen sagt: das findet alle acht Tage statt, würde er sich hinsichtlich des Datums nicht irren, er wüßte genau, daß es am siebten Tage liegt. Nur jemand, der völlig unvertraut mit unseren Gewohnheiten ist, würde darunter den achten Tag verstehen. Nur ein Nichtrömer könnte annehmen, daß die Fünfjahres-Spiele alle fünf Jahre stattfänden.

Diese Sätze verraten, daß es sich um einen Schriftsteller der Renaissance handelt. Damals nämlich verstand man unter Lustrum die Dauer von fünf Jahren, und diese irrige Ansicht ist bis heute nicht aus allen Köpfen zu tilgen.

Liest man, daß in Neros Zeit London eine für seine Aktivitäten und seinen Handelsreichtum schon berühmte Stadt war, müßte das nicht ein Irrtum sein, den man einem Römer des 1. Jh.s u.Ztr. nicht anlasten könnte? Ist das nicht ein starker Hinweis auf einen Schriftsteller, der Zeuge der herausragenden Rolle ist, die England in der westlichen Welt spielt und der Bedeutung, die seine Hauptstadt errungen hat? Es liegt offen zutage, daß diese Zeilen nur ein Mensch des ausgehenden Mittelalters geschrieben haben kann.

In Zusammenhang mit den Bittgesuchen einer parthischen Gruppe, die Gesandte nach Rom geschickt hatte, liest man im XII. Buch der Annalen, daß Claudius sich entschloß, den Meherdates zu unterstützen, den Gotzares zu stürzen und an dessen Stelle den Thron zu besteigen. Anfangs marschiert der Emporkömmling mit Glück gegen seinen Gegner, und die Städte, die er angreift, unterwerfen sich oder werden eingenommen. Doch wie muß man staunen, wenn man liest, daß in der Aufzählung der von Meherdates eroberten Orte auch Ninive vorkommt, und zwar als alte Hauptstadt von Assyrien!

Ninive bestand schon seit Jahrhunderten nicht mehr; selbst seine Ruinen waren verschwunden, wie die von Troia: etiam periere ruinae. Herodot, die Propheten Israels, Strabon, Plinius hatten das gesagt, und Lukian hatte es wiederholt.

Tacitus hätte das genauso wissen müssen. Ein solcher Irrtum kommt sicher aus dem Bedürfnis, über eine Stadt zu sprechen, die den Leser genau wie den Autor selbst interessierte. Für einen Römer mußte diese Erinnerung jedoch gleichgültig sein; sie weist auf einen Denker, der von der Bibel und den Kommentaren von St. Hieronymus beeindruckt ist. In diesen Kommentaren, und zwar in denen zu den Prophezeiungen von Nahum, der, wie er sagt, wie Jonas den Untergang von Ninive angekündigt hatte, behauptet der Kirchenvater – man weiß zwar, worauf er sich beruft, jedoch in jeder Hinsicht zu Unrecht – daß die alte Hauptstadt der Assyrer aus ihren Ruinen wieder auferstanden sei und seinerzeit existiere und ihren Namen von Ninive in Ninus umgeändert habe.

Im V. Buch der Historien steht in Bezug auf die Beschneidung bei den Juden: „Circumcidere genitalia instituere, ut diversitate noscantur; transgressi in morem eorum idem usurpant.“

Die Beschneidung, schon bei den alten Ägyptern allgemein üblich, war bei den Einheimischen in Gebrauch geblieben; sie gehörte als wesentlicher Bestandteil zur Religion der Syrer, der Phönizier und infolge davon sehr wahrscheinlich auch der Karthager. Wie konnte Tacitus das nicht wissen? Diese Völker waren viel zahlreicher und hatten mehr Beziehungen zu den Römern als die Juden. Nur ein Autor, dem die Sitten der vom Imperium unterworfenen Rassen unbekannt waren, konnte einem solchen Irrtum verfallen und behaupten, daß die Beschneidung eine besondere Sitte der Juden war.

In moderner Zeit dagegen war sie Zeichen aller jener, die sich als Nachfahren Abrahams ansehen; nur sie hatten diese Praxis bewahrt, und deswegen konnte ein Schriftsteller des 15. Jh.s annehmen, daß es in der Antike ebenso gewesen sei.

(Ende der wörtlichen Übersetzung)

(Zusammenfassung des dritten Abschnittes von Kap. IV von Uwe Topper)

Was Hochart anschließend beleuchtet – nämlich daß völlig unmöglich ist, was Tacitus über den Feldzug des Germanicus gegen die Cherusker berichtet – das gleicht schon einer Ulknummer: Wie drei Generäle in der Nähe von Köln in kurzer Zeit tausend Schiffe bauen lassen, um 70 bis 80.000 Soldaten mit Pferden und Verpflegung zur Nordsee und von dort in die Ems zu befördern, mit anschließender Katastrophe und Zerstreuung der Flotte durch einen Sturm, sodaß einige Überlebende bis Schottland und weiteren Nordinseln versprengt wurden Es ist allzu offensichtlich, daß hier Seemannsgarn gesponnen wird von einem Kleriker, der das Meer fürchtet. Hocharts feine Ironie würde bei einer Übersetzung verloren gehen, das muß man schon selbst lesen.

Hochart stellt auch weiter unten fest, daß Poggio zwar die Nordsee etwas gekannt (und daher gefürchtet) haben dürfte, anläßlich seiner Überfahrten nach England, aber sonst nichts vom Kriegshandwerk verstand, und den Golf von Neapel nie gesehen hatte. Was alles für einen gedachten Tacitus, der darüber schreibt, undenkbar wäre; es paßt eben nur zu Poggio.

Teil 3, Kap. II
Wie ist das Werk, das Tacitus zugeschrieben wird, entstanden?
von Polydore Hochart (Übersetzung von Uwe Topper)
Von den Quellen und der angewandte Methode – Dion Cassius – Plutarch – Suetonius – Flavius Josephus – Tertullian – Paulus Orosius – Sulpicius Severus – Anordnung der verschiedenen Teile des Werkes

Von den Quellen und der angewandten Methode

Das Verlangen, die Geschichte römischer Größe der vergangenen Jahrhunderte darzustellen, das zur Zeit der Renaissance die Humanisten Europas beflügelte, fand seine Grenze im Mangel an Dokumenten. Die Ausbreitung der Herrschaft Venedigs nach Osten und die Auswanderung der Griechen nach Italien brachten Manuskripte nach Westen, die mehr oder weniger wahre, damals unbekannte Überlieferungen über den sozialen und politischen Zustand des Römischen Reiches offenbarten.

Sehr wenige Personen verstanden Griechisch; außerdem waren diese Manuskripte selten und gelangten nur in die Hände einiger Auserlesener. So war es möglich sie zu benützen, in ihren Inhalt einzudringen und anschließend römische Annalen zu schreiben und sie als vermutlich verlorengegangene oder unbekannte Werke eines alten Autors zu präsentieren, die eine glückliche Entdeckung zutage gefördert hatte.

Der wichtigste unter den griechischen Historikern des Römischen Reiches und der am vollständigsten in Italien erhalten gebliebene war Dion Cassius. Sein Werk wurde kopiert und zusammengefaßt von verschiedenen Schreibern des Mittelalters, deren wichtigste Xiphilin und Zonares waren. Bei diesen also und bei deren Kurzfassungen konnte sich ein Humanist des XV. Jh.s bedienen, wenn er sich vornahm, die Geschichte des Römischen Reiches vom Tod des Augustus bis zu dem des Dominitian zu schreiben.

Plutarch hatte in seinen Lebensläufen berühmter Männer die Viten von Pompejus, Cäsar und Antonius beschrieben, die wertvolle Angaben enthielten; das Leben Neros war verloren, man besaß dagegen die Viten des Galba und des Othon. Plutarch mußte ein Führer für den sein, der über Rom reden wollte und besonders über die letzen beiden Fürsten.

Das Leben der Cäsaren von Suetonius, was auch immer man ihm an Wert oder Herkunft zuteilen mag, war den meisten, die sich damals mit Geschichte und Literatur beschäftigten, zu Händen. Suetonius war demnach eine angesagte Informationsquelle.

Ein Renaissance-Schriftsteller konnte es nicht unterlassen, die Juden in Szene zu setzen und bekanntzumachen, wie ihr Verhältnis zur römischen Regierung war. Notwendigerweise war Flavius Josephus dazu ausersehen, alle Kenntnisse, die sich auf das auserwählte Volk bezogen, mit seinen Jüdischen Altertümern und den Jüdischen Kriegen zu liefern.

Christliche Autoren hatten eine abgekürzte Weltgeschichte zur Erbauung ihrer Gläubigen verfaßt. Der wichtigste unter ihnen war Paulus Orosius; er galt als die Autorität in der Kirche. Er mußte umso mehr herangezogen werden, als er vorgab, häufig heidnische Schriftsteller, unter anderen Tacitus, zu zitieren.

Die Chroniken des Sulpicius Severus waren wenig bekannt, aber man fand hier die sagenhaften Überlieferungen der Kirche hinsichtlich der Christenverfolgungen; dieser Teil der römischen Geschichte, der in den Augen der Gläubigen sehr wichtig war, konnte nicht ausgelassen werden.

Schließlich mußte der Autor in sein Werk auch gewisse Erinnerungen, die andere Bücher in seinem Gedächtnis hinterlassen hatten, integrieren.

In der Abwicklung seiner Erzählung war unbedingt zu erwarten, daß er das Mittel der Ausweitung anwenden würde, eine rhetorische Technik, mit der alle Gebildeten jener Zeit vertraut waren.

So zeichnet man den Seelenzustand einer Persönlichkeit, die gerade dabei ist, eine edle oder verbrecherische Handlung zu begehen, man zeigt die verschiedenen Motive, die ihn bewegen, ihn zögern lassen oder zur Tat antreiben. Handelt es sich um eine politische Maßnahme, entwickelt man in einer Erörterung die Beweggründe, die zu seinen Gunsten sprechen, während man in einer zweiten Erörterung jene Motive vorbringt, die dagegen sprechen.

Handelt es sich um einen Krieg, läßt man die Truppen in dem Land, in dem sie sich bewegen, Flüsse auf Bootsbrücken überschreiten, Sümpfe und Wälder durchqueren oder Gebirge ersteigen und findet so Anlaß für tausend Vorkommnisse. Bei den Schlachten legt man dem General Ansprachen in den Mund, die das Herz der Soldaten entzünden können; man schickt die Infanterie vor, läßt eine Abteilung Kavallerie antreten, versteckt Feinde in einem Hinterhalt, läßt den Mut und die Fähigkeit siegen, bestraft die Besiegten.

Und Abschweifungen dürfen nicht unterlassen werden.

(Ende der wörtlichen Übersetzung)

Hochart führt im folgenden die genannten Quellen und ihre Verwendung im Tacitus vor, was für Kenner der Materie sicher sehr aufschlußreich ist. Da wir ihm hier ohne Nachprüfung vertrauen können, spare ich mir die weitere Übersetzung. Seine Methode ist sehr kenntnisreich und war vor hundert Jahren gewiß jedem Gebildeten einleuchtend.

Schlußfolgerung
von Polydore Hochart (Schlußteils, S. 234-235; Übersetzung von Uwe Topper)

Der Leser, der uns wohlwollend in dieser langen und trockenen Untersuchung bis hierher gefolgt ist, wird hoffentlich erkennen, daß wir keineswegs eine nutzlose Arbeit unternommen haben, und daß die aufgeworfene Frage ernste Aufmerksamkeit verdient. Vielleicht bleiben wir auch nicht allein mit unserer Ansicht.

Diejenigen aber, die gerne die übliche Meinung von der Echtheit der Annalen und Historien aufrecht erhalten wollen, können wohl nicht, glauben wir, sich darauf beschränken, sondern müssen zumindest einige unserer Feststellungen beantworten. Sie müßten die Beweggründe angeben, die davon abhalten, das hohe Alter der archetypischen Handschriften anzuzweifeln, und darlegen, wie diese Seiten tatsächlich als das ehrliche Werk eines großen Geschichtsschreibers aus der Zeit Trajans sein können.

Dieser Beweis müßte erbracht werden.

Wenn aber erkannt wird, daß diese Bruchstücke der römischen Geschichte von einem Humanisten des 15. Jhs. geschrieben wurden, müßte man sie dann dem Feuer übergeben? Das ist nicht unsere Ansicht, es ist nicht die Schlußfolgerung dieser Untersuchung.

Wir glauben, daß die Bewunderung, die man für die Annalen und Historien aufgebracht hat, auch wenn sie übertrieben sein mag, ihre Berechtigung hat. Die Bilder, die uns bewegten, die Überlegungen, die man als erfüllt mit Genauigkeit und Weisheit erachtet hat, die Gedanken, die mit Kraft und Feinheit ausgedrückt sind – bleiben dieselben. In dieser Hinsicht handelt es sich um ein literarisches Werk erster Güte.

Auch wenn Poggio seine Zeitgenossen und die Nachgeborenen über den wahren Urheber des Werkes täuschen wollte, so hatte er sich doch vorgenommen, so exakt wie möglich in seinem Bericht zu sein, und zu diesem Zweck hat er alle Dokumente verwendet, die man seinerzeit zur Verfügung hatte; so hat er wiederholt, was Dion Cassius, Josephus, Suetonius und christliche Autoren geschrieben haben.

Wo er seine Vorbilder verläßt, um seine Themen auszuweiten, läßt er die von ihm in Szene gesetzten Gestalten so sprechen, wie sie es seiner Meinung nach selbst wohl getan haben würden. An vielen Stellen ist ihm das mißlungen; oft aber auch gelungen. Seine Abweichungen sind im allgemeinen sehr lesenswert.

Auch wenn die Annalen und Historien nicht von einem Schriftsteller des antiken Rom stammen, so sind sie dennoch nicht ohne historischen Wert; zieht man sie mit Umsicht zu Rate, dann bleiben sie noch immer von Nutzen für die Kenntnis des Römischen Reiches im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

Ende des Buches

Kommentar zu Hocharts Werk
von Uwe Topper

Dieser versöhnliche Schluß Hocharts befriedigt mich nicht. Er läßt mehreres außer Acht. Da ist zunächst einmal die wissenschaftliche Neugier, die einen Forscher zu solchen jahrelangen Studien zwingt. Hat er einmal ein Ergebnis gefunden, dann sollte er nicht geringschätzig seine eigene Arbeit betrachten, denn all die Entbehrungen und schlaflosen Nächte verdienen Anerkennung. Weiter halte ich es für nötig, daß eine künstliche Geschichtsschreibung, die ohne den Willen zur Ehrlichkeit auftritt, in jedem Fall als unzulässig angeprangert werden muß. Poggio war ein gerissener Betrüger, der sich bereicherte, indem er die Unwissenheit seiner Zeitgenossen ausbeutete. Die ihm zuteil gewordene Bewunderung, die Hochart erwähnt, muß ihm in einer aufgeklärten Zeit wie der des ausgehenden 19. Jhs. abgesprochen werden.

Außerdem wäre noch auf den politischen und weltanschaulichen Zweck seiner Arbeit hinzuweisen, der ja keineswegs sein Ziel verfehlte, sondern unsere Vorstellung vom Römischen Reich und damit von der Geschichte Europas und des Mittelmeerraumes, geprägt hat, und zwar in einer Weise geprägt hat, die für viele politische und theologische Handlungen besonders des Vatikans (in dessen Rahmen die Arbeit ja erfolgte) neue Gebiete erobern half, freie Hand ließ für neue Untaten mit Hinweis auf „altbekannte“ Geschichte, Rechtfertigung schuf für Machtansprüche, die nicht zum Wohl der Bervölkerung geführt haben.

Nun habe ich Hocharts Buch aus heutiger Sicht der Geschichtskritik gelesen. Es ging mir vor allem um die Frage: Wann lebte Poggio wirklich? Denn daß die bisher akzeptierten Jahreszahlen (1380-1459) nicht stimmen können, wird leider immer deutlicher. Es dürften, wie so häufig, „italienische“ Jahreszahlen sein.

Hochart stellt Vergleiche zu Machiavelli her (z.B. S. 5 f. und 231), was durchaus nachvollziehbar ist. Allerdings: Machiavelli lebte ein Jahrhundert später! Auffällig ist die republikanische Grundhaltung von Poggio, sowohl in seinen eigenen Schriften (etwa in De felicitate Principum) als auch in den von ihm gefälschten (Annalen, Historien, Germania und Agricola), und damit paßt er nicht in die Zeit von Machiavelli (1469-1527), der schon totalitär denkt; doch für die für Poggio angenommene Zeit um 1430 kommt dessen republikanische Einstellung zu früh. Er dürfte irgendwo dazwischen liegen.

Das erste Zitat aus Macchiavellis „Erörterung des Titus Livius“ (II, V) ist kennzeichnend für Hocharts kritische Denkweise: Gregor der Große verbrannte alle alten Texte der Heiden, zerstörte Inschriften und Denkmäler usw. – und wenn es nicht wegen der lateinischen Sprache als solcher wäre, die man ja irgendwie lernen mußte, dann wären keine antiken Texte erhalten geblieben, steht da.

Man machte sich also auch schon im 16. Jh. Gedanken darüber, warum die Mönche die antiken Texte weiterkopiert haben sollten, und findet die seltsame Erklärung, daß man sich ja nur aus der heidnischen Literatur ein richtiges Latein aneignen konnte. Wären die Vulgata-Bibel und die vielen Schriften der Kirchenväter nicht ausreichend gewesen zur Bewahrung der lateinischen Sprache (wie der Koran für die arabische)? Mußte man auch den Goldenen Esel und andere pornographische Schriften zum Erlernen der klassischen Sprache in den Klöstern immer wieder abschreiben?

Hochart baut diesen Gedanken weiter aus: Die christlichen Mönche waren keineswegs gewillt, heidnische Schriftsteller mühevoll abzuschreiben, denn ihre Oberen erlaubten das nicht, und ein Markt für solche Abschriften bestand nach der Christianisierung des Abendlandes auch nicht mehr. Wenn es also verpönt oder gar verboten war, einen Cicero oder Seneca zu verbreiten, wie kommt es dann, daß diese Texte – und dazu noch die erotischen Ergüsse eines Plautus oder Apuleius – in den Klöstern durch mehrfaches Abschreiben (in langobardischer oder karolingischer Schreibform!) vor dem Vergessen bewahrt wurden? Und dann hatten diese Mönche gar kein Interesse mehr daran, diese kostbaren Manuskripte an den Mann zu bringen, sondern ließen sie in ihren Kellern verfaulen oder schnitten sogar Streifen ab, um Amulette für die armen Leute  daraus zu verfertigen.

Zur möglichen Datierung der Tacitus-Texte fragt Hochart (S. 70): Was hat man überhaupt für Hinweise auf das Alter der Tacitus-Manuskripte? In einem, dem sogenannten Medici 2, steht eine Notiz, daß diese Handschrift in der Zeit der Konsuln Olibrius und Probinus korrigiert worden sei, wobei der Name des ersten Konsuls falsch geschrieben ist; das wäre in der Regierungszeit von Kaiser Theodosius im 4. Jh., aber da die Handschrift in langobardischen Lettern verfaßt ist, die erst zwei Jahrhunderte später aufkamen und wegen ihres Aussehens von Fachleuten erst ins 10. oder 11. Jh. gestellt werden, handelt es sich bei dieser Notiz um eine grobe Fälschung, sagt Hochart. Natürlich war hier wieder mal „der dumme Kopist“ an dem Fehler schuld, wie Kammeier sich auszudrücken pflegte (ob er die Arbeit von Hochart kannte, habe ich nicht herausgefunden), das sollte uns an der Echtheit nicht zweifeln lassen.

Hochart fährt fort: Die Notiz steht allerdings am Ende des X. Buches des Apuleius, das mit den beiden Tacitus-Werken zusammen in dem Manuskript Medici 2 gebunden ist, und deswegen besagt sie nichts über die Tacitus-Kopien. Damit fällt eine Datierung der Abschrift ins Wasser, aber zugleich – das sagt Hochart nicht – wirft es auch ein Licht auf die Fälscher: Wer es nötig hatte, dergleichen falsche Datierungen anzubringen, hatte keine Ahnung von Chronologie, sonst hätte er es besser gemacht. Und wenn nicht einmal die Fälscher Ahnung davon hatten, dann wahrscheinlich niemand. Anders gesagt: Die heute gültige Chronologie war im 15. Jh. noch nicht erfunden.

Wenn der hochgelehrte Jesuit Hardouin noch gemeint hatte, daß viele dieser Abschriften von christlichen Mönchen des 13. Jahrhunderts stammen dürften, rückt Hochart mit seiner Untersuchung nun den Sachverhalt zurecht, daß die Aussage von Hardouin höchstens auf die christlichen Texte, also vor allem die der Kirchenväter, zutreffen könne, während die heidnischen Schriften wohl erst ab dem 15. Jh. entstanden sein können.

Damals waren die Käufer der angeblich antiken Manuskripte bzw. der Abschriften gar nicht in der Lage, die Echtheit dieser Texte zu prüfen. Sie nahmen, was man ihnen anbot, und verbreiteten es leichtfertig, wenn es ihnen gefiel. Dadurch hatten die Fälscher leichtes Spiel. Zwar wurden immer wieder einige dieser Abschriften als ausgedachte Ergüsse zeitgenössischer Dichter entlarvt, aber das Gros der Texte blieb davon unberührt. Es wird uns sogar heute noch (im 19. Jh.) als echt antik vorgelegt, was grotesk anmutet.

Der erste Anlauf Poggios mit einem gefälschten Manuskript mißlang ihm allerdings, wie Hochart genüßlich aufdeckt: Die Dekaden des Titus Livius, die auf der dänischen Insel Seeland im Zisterzienser-Kloster Sorö (bei Roskilde) aufgetaucht sein sollten, und die er vergeblich einige Jahre lang zum Kauf anbot. Poggio mußte noch lernen. Er bat auch seinen Mithelfer Niccoli immer wieder um Vorlagen und Pergamente, außerdem mußte er sich gedulden, den fertigen Abschriften einige Jahre Zeit zu gönnen, Patina anzusetzen. Dies scheint der Grund gewesen zu sein für die lange Hinauszögerung (mindestens vier Jahre), den Kodex Medici 2 endlich abzuliefern. Vielleicht hat Poggio auch immer noch Verbesserungen angebracht, aber ein Grund dürfte das Altern gewesen sein, wie Hochart (S. 217) mit einem Zitat nach Hardouin aus den Prolegomena erklärt: „(Die Texte) wurden nicht sogleich veröffentlicht, wie sie geschrieben wurden, wie heute die gedruckten herauskommen; sondern sie wurden aus dem Versteck geholt nach fünf, zehn oder mehr Jahren.“

Beachtlich finde ich, daß Hochart schon soviel Abstand zu Hardouin hatte, einerseits dessen große Leistung anzuerkennen, andererseits ihn zu berichtigen hinsichtlich der Herstellungsdaten der heidnischen Literatur. Dabei kam beiden Autoren noch nicht der inzwischen von uns ausführlicher besprochene Gedanke, daß die frühen Klöster des Abendlandes (vielleicht vor 600 Jahren) heidnischen Glaubens waren, und daher durchaus auch entsprechende Texte herstellen konnten, wie man bei den ganz frühen Versuchen ahnen kann.

Der päpstliche Sekretär Poggio wird übrigens – und nicht nur von Hochart – als Wüstling geschildert, der Feste und Frauen schätzte und daher auch mehr Bedarf an Geld hatte, als sein gewöhnliches Gehalt abwarf. Manuskripte brachten sehr viel ein, wie man immer wieder bei Hochart liest. Zu Poggios ersten Arbeiten gehörte wohl die Übersetzung einer griechischen Esels-Fabel ins Lateinische (angeblich von Lukian), was ihn zur Herstellung des Goldenen Esels von Apuleius weiterführte (S. 218), der dann im Kodex Medici 2 zusammen mit den Tacitus-Annalen und Historien gebunden wurde.

Poggio lernte jedenfalls noch, als er den Tacitus schuf. Die zweite Lieferung der Annalen (inhaltlich der erste Teil), hat Poggio nicht mehr selbst verkauft, sagt Hochart. Es dürfte sein Sohn Jean-François gewesen sein, der gegen 1515 dem neuen Papst Leo X die fehlenden ersten sechs Annalen übergab (das heutige Manuskript Medici 1). Sie stammen nach einhelliger Meinung von der selben Hand, sind aber inhaltlich viel besser als der von Poggio zu Lebzeiten abgelieferte zweite Teil der Annalen (mit den Historien und dem Apuleius). Statt in lombardischer Schrift, die in Italien weitgehend für die klassischen Abschriften verwendet wurde, sind diese besseren Texte nun in karolingisch geschrieben, passen also eher zu dem angeblichen Herkunftsort, den Klöstern in Deutschland. Statt Hersfeld wird für die zweite Lieferung das Kloster Corvey angegeben, allerdings nicht sofort sondern erst nach längerer Beratung.

Die Klosterbibliothek von Monte Cassino war schon sehr früh lächerlich gemacht worden; so mußte man sich immer fernere Auffindungsorte und immer abenteuerlichere Herkunftsgeschichten ausdenken, je leichter das Reisen und je gewissenhafter die Vereinheitlichung der katholischen Köster wurde. Für einen besseren Titus Livius (anstelle des mißglückten aus Sorö) merkt Hochart (S. 221, 1) folgende Geschichte an: Damals fand man einen vollständigen Titus Livius auf einer Insel der Hebriden. Er hatte zum Beutegut des Alarich bei dessen Plünderung Roms gehört und war durch Fergusius, König von Schottland, weggeschafft worden, dann aber aus Angst vor dänischen Räubern auf die Insel Hiona gebracht worden. Das Manuskript bot man nun König François I zum Kauf an, der wies es aber auf den Rat seiner Fachleute ab (nach Paul Jove, Venedig 1548).

Poggio nennt für seine Tacitus-Kopien als Mithelfer einen Nikolaus von Trier. Der ist mir unbekannt, vielleicht ist Nikolaus Cusanus gemeint, mit dem Poggio ja gemeinsam regen Manuskripthandel betrieb und der stets in Zusammenhang mit dem Tacitus-Verkauf genannt wird, der diesbezügliche Briefwechsel der beiden ist erhalten (Cusa oder Kues an der Mosel liegt nicht weit von Trier, wenn man von Italien aus schaut; außerdem mußte ich schon vor einigen Jahren aus anderen Gründen Cusanus um mindestens ein halbes Jahrhundert versetzen). Dieser Nikolaus von Trier sollte Poggio eine „Geschichte der Kriege in Germanien“ von Plinius d.Ä. besorgen, doch später ist nicht mehr die Rede davon und auch kein Blatt mehr davon erhalten, weil diese „Geschichte“ nicht besser war als der Titus Livius aus dem dänischen Kloster Sorö, mit dem man niemanden täuschen konnte, weshalb er ebenfalls wieder verschwand, berichtet Hochart. Ein solche kritische Einstellung ist jedoch erst nach 1500 denkbar, als die ersten Fälschungen aufgeflogen waren: die von Annius von Viterbo, von Trithemius, von Celtes usw. Da wäre Poggio nach italienischer Chronologie schon vierzig Jahre tot gewesen.

Der Aufbau der humanistischen Bibliotheken durch die Geldgeber der Fälscherzunft, die Herstellung von richtigen Büchern usw. beginnt erst mit den griechischen Flüchtlingen nach dem Fall von Konstantinopel (der sinnigerweise auf 1453 angesetzt wird, ein glattes Jahrtausend nach dem Untergang des Weströmischen Reiches). Da vorher kein Bedarf für solche „antiken“ Bücher war, brauchten diese auch nicht gefälscht zu werden. Auch aus diesem Grunde muß Poggio später angesetzt werden.

Über die Manuskripte der Tacitus-Werke erfahren wir von Polydore Hochart in seinem Brief an den Abbé N. Anziani (Verwalter der Bibliothek der Medici in Florenz):
„Es gibt kein Manuskript des Tacitus, das im 13. oder 14. Jh. abgeschrieben worden wäre. Alle, die wir haben, sind aus dem 15. oder 16. Jh.; und sie sind alle kopiert nach dem des Poggio und des Niccoli.“
Man erinnere sich: Auch die Bronzetafeln von Lyon wurden erst 1528 gefunden.

Hinzu kommt: Poggio ist schon vollberuflicher Kleriker im Dienst der Päpste, er schreibt flüssiges Latein (wenn auch noch mit groben Fehlern) und erlebt seine Umwelt, also die Kurie, als eine Ansammlung von Heuchlern und Betrügern, moralisch und sittlich verkommenen Geistlichen; das dürfte für den Beginn der Kirche (Konzilien von Kostnitz und Basel) verfrüht sein. Zumindest stellt es sich uns heute so dar, daß die Verworfenheit der Päpste erst mit den Borgia in Rom einzog.

Allerdings setzt Hochart gerade an dieser Stelle an und vergleicht Passagen der Annalen mit den Vorgängen beim Konzil von Kostnitz: Die Absetzung des Papstes Johannes (XXIII), die Verbrennung von Hus und später die Folterung und Verbrennung von Hieronymus von Prag, der für Hus eingetreten war, die Bücherverbrennung usw. spiegeln sich in den taciteischen Beschreibungen der Zustände am römischen Kaiserhof, so daß letztere wie Reflexe der Ereignisse von Kostnitz wirken, meint Hochart. Für ihn sind ja die Konzilsmärchen noch historische Fakten, während sie wohl parallele Fiktionen mit gleicher Absicht sind. Insofern wirken hier dieselben Faktoren sowohl für die Konzilsberichte als auch für die Annalen.

Andererseits sind die zahlreichen grammatischen und verbalen Fehler, der unsichere Stil, dazu die noch zügellose Fantasie, Hinweise für eine nicht zu späte Herstellung. Zwanzig Jahre Erfahrung machen da schon viel aus. Hochart hält Poggio für einen der gelehrtesten Männer seiner Zeit, Erforscher der römischen Inschriften und hervorragenden Kalligraphen, der wirklich bemüht war, „authentische“ Geschichte zu erfinden. Es ging ihm eben doch nicht nur um Geldgewinn, sondern auch um die Verbreitung einer Weltanschauung, und an dieser läßt er sich zeitlich grob einordnen: 1470 bis 1510 als Wirkzeit, wäre mein Vorschlag.

Hinsichtlich der genauen Nachweise der Quellen des Tacitus von Poggio durch Hochart muß die Reihenfolge nicht unbedingt aus der heutigen Chronologie erschlossen werden; die Übernahme könnte manchmal auch umgekehrt verlaufen sein: Statt der Verwendung eines ‚antiken’ Textes von Sulpicius Severus durch Poggio könnte der Fälscher des Sulpicius Severus den Tacitus von Poggio benützt haben. Wegen der Unsicherheit, wann welches lateinische Werk von den Humanisten hergestellt wurde, ist zunächst beides möglich, vor allem auch wegen der unterschiedlichen Datierungsweise nördlich und südlich der Alpen.

Die Briefe von Poggio, die Hochart im Anhang im vollen lateinischen Wortlaut bringt, verdienen vermutlich kein Vertrauen, sie könnten zur Rechtfertigung der Fälschungsarbeit hergestellt worden sein. An einzelnen Briefen weist Hochart nach (z.B. S. 57), daß es sich augenscheinlich um ein erlogenes Dokument handelt.  Und mehrfach (besonders S. 207) stellt er fest, daß Poggio selbst seine Briefe sehr sorgfältig ausgewählt, durchgesehen und veröffentlicht hat. Auch das geschah nicht selten in humanistischen und theologischen Zirkeln, ‚Briefliteratur’ war ein gebräuchlicher Zweig der Schriftstellerei. Mit kriminalistischem Gespür gibt Hochart eine Kostprobe solcher Verdrehungen in seinem Büchlein Bocace et Tacite, dem schon erwähnten Brief vom 30. Juni 1890 an den Abbé Anziani, veröffentlicht in den Annalen der Literatur-Fakultät in Bordeaux.

Hier wäre noch einiges Aufspüren möglich. Vor allem sollte jemand Hocharts spätere Veröffentlichung zu dem Thema (Neuere Betrachtungen ... 1894) auffinden. Sie wird vermutlich noch viel schärfere Kritik enthalten.

Literatur

Hochart, Polydore (1884) Sénèque et la mort d' Agrippine : étude historique / par H. Dacbert [i. e. Polydore Hochart] (E. J. Brill, Leiden und E. Lechevalier, Paris)
(1884): La persécution des chrétiens sous Neron (in: Annales de la Faculté des Lettres de Bordeaux) (neu aufgelegt bei Leroux Paris 1885)
(1885): Études sur la vie de Sénéque (Ernest Leroux, Paris) 285 S.
(1888): Études d'histoire religieuse (Bordeaux) 419 S. (und Leroux Paris 1890)
(1890): De l’autenticité des annales et des histoires de Tacite (Paris) 340 S.
(1890): Bocace et Tacite. Lettre à l’Abbé N. Anziani (in: Annales de la Faculté des Lettres de Bordeaux, Bordeaux/Paris)
(1894): Nouvelles considérations au sujet des Annales et des Histoires de Tacite (Thorin et fils, Paris) 293 S.
(1895): ??,  275 S.

Einige der von Hochart genannten:

Hardouin, Jean S.J. (1766): Ad censuram scriptorum veterum Prolegomena (London)
(s.d.): De nummis Herodiadum liber etc. (ohne Erscheinungsort angegeben)
Anonym: Antiqua Mater (d.i. Johnson, Edwin, 1887) 
Machiavelli, Discours sur Tite Live (‘Discorsi’ 1513-1519)
Prosper Alfaric über Seneca (mir unbekannt)
Ross, J. W. (1878): Tacitus and Bracciolini. The Annales forged in the XV. century (London) 430 S.

Weitere Hinweise in:

Kammeier, Wilhelm (1935/2000): Die Fälschung der deutschen Geschichte (11. Aufl.)
Topper, Uwe (1998): Die ‚Große Aktion’ (Tübingen)


Kommentar zum Artikel März 2009

Leser: Walter Haug (Deutschland) · [walha1a@aol.de]

Manche Argumente Hocharts meint man leicht widerlegen zu können, bei anderen wird es schwerer, manche erscheinen unwiderlegbar. Die Summe ist´s, die es letztendlich ausmacht.

Was mich bei antiker Literatur grundsätzlich stört, ist der Sprachstil an sich. Bei der sog. Antike gehe ich von einer grundsätzlich anderen Kultur aus, als zur Zeit der Renaissance. Die Mentalität der Menschen war sicher anders, ihre Denkart verschieden, weil ganz eigen und an ihre Zeit gebunden. Vergegenwärtigen wir uns die kulturellen und sprachlichen Unterschiede, wohinter immer die Denkungsart steckt, z. B. der gegenwärtigen französischen Sprache zur deutschen und englischen, oder auch nur die Entwicklung der englischen Sprache vom Ende des zweiten Weltkriegs bis heute. Welche Entwicklungen sind da sichtbar, in geistiger, ethischer, philosophischer, sozialer, in fast aller Hinsicht. Sicher ist es ein evolutionäres Prinzip, von einem simplifikanten zu einem differenzierten Ausdruck der Sprache zu gelangen. Dementsprechend wäre im Selbstverständnis der tatsächlichen Antike ein ganz anderer Umgang mit der eigenen Identität zu erwarten. Im Entwicklungsprozess der Menschheit war erstmals die Formation großer, ganze Kontinente übergreifender Machtstrukturen entstanden. Dieses imperiale Denke n war auf Macht gegründet, nicht auf Reflexion. Was wir an Literatur erwarten können sind Befehle, Erlasse, Nachrichten, die den Zusammenhalt im Reich gewährleisten.

Schauen wir in die Reiche des Nahen und Mittleren Ostens, wo dieser evolutionäre Schritt anhand der zeitgenössischen Keiltexte gut dokumentiert ist. Gibt es dort Philosophen, die sich Gedanken über das Tun ihrer Herrscher machen? Nein, nur Buchhalter, die das erbeutete, besteuerte oder sonstwie zusammengeraffte Vermögen in Lagerhaltung verwalten.

Die ganze antike philosophische, historische, geographische u. s. w. Literatur ist demzufolge ein einziger Bluff.
Nach Christoph Marx ist das ganze PRW-Kombinat (die Kollektivdenksysteme der Philosophie, Religion und Wissenschaft) die Folge von Traumata, verursacht durch einen globalen Kataklysmus. Selbstkritik, Reflexion, Philosophie, auch Religion (die kein magisches Beschwören ist) brauchen also ein traumatisches Erlebnis, um überhaupt in Gang zu kommen. Das schlechte Gewissen als Ursprung aller Selbstbetrachtung, woraus Religion, Ethik, Moral und Anstand sprießen, kann nur infolge einer als göttlich verstandenen Bestrafung erwachsen sein.

Die Herrscher der Antike handelten wie kleine böse Jungs, ohne Ahnung über die Folgen ihres Tuns. Ihre Reiche gingen unter, ihre Städte wurden hinweggefegt von gigantischen Fluten, stürzten unter den Erdbeben zusammen. Archäologen finden heute kaum noch intakte Mauern über dem Erdboden. Wir haben es ja gerade (Anfang 2009) in Pfaffenhofen gesehen. Die ausgegrabene römische Stadt dort war wie wegrasiert, der ganze Talgrund planiert.

Aufschlussreich ist, dass die Fälscher zuerst die lombardische Schrift verwendeten, offenbar weil sie ihnen authentisch erschien, und zwar, weil die ersten Kirchenväter wohl diese Schrift und Sprache verwendeten. Das aber bestätigt die Einwanderung des christlichen Glaubens und der lateinischen Sprache vom Balkan, von einer Gegend, die Orbini als „Reich der Slawen“ bezeichnet.

Die spannende nachkatastrophische Geschichte ist es, die meist von den Fälschern verarbeitet wurde, als Rückprojektion in eine fast vollständig vergessene und weitgehend schriftlose Antike. Es dürften die wenigen etruskischen Zeichen sein, die wirklich als authentisch für eine Antike auf dem Boden Italiens gelten dürfen.

murex
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