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Berlin · 2023  Uwe Topper topper

Neuigkeiten im Jahr 2023

Erdbeben in Anatolien (Ilya U. Topper)

Ich war eine Woche unten in der Erdbebengegend, es sieht schlimm aus, am schlimmsten überhaupt in Antakya, das alte
Antiochien, es ist völlig zerstört. Nicht nur Neubauten, auch die schöne Altstadt, mehrere hundertjährige Moscheen, es steht kein Stein mehr auf dem anderen. Ob die Stadt wieder so existieren wird, wie sie bis jetzt war, ist ziemlich fraglich. Es waren ja nicht so sehr die Bauten, die sie so einzigartig machten, sondern vor allem ihre Bewohner.

Wieso die Zerstörung dort größer ist als irgendwo sonst, wo Antakya doch 175 km vom Epizentrum entfernt liegt, ist ein Rätsel. Eigentlich gibt es bei diesem Beben kein Epizentrum, sagte mir ein Geophysiker, sondern eine 300 km lange Verwerfungslinie, von Malatya im inneren Anatolien bis zur Mittelmeerküste, und Antiochen liegt genau darauf; wahrscheinlich fließt der Orontes, mit seinem eigenartigen Nord- und dann Südverlauf genau in dieser Linie. Dazu kommt der weiche Sedimentboden, der die Bebenwellen weiterleitet bis sie irgendwo gegen anderes Gestein stoßen - wohl der Musa Dağ - und dann zurückgeworfen werden. Man stelle sich das so vor, wie wenn man einen Stein in einen Teich wirft und die Wellen laufen vom Ufer zurück und schlagen mit den nächsten zusammen. Das Ausmaß an Zerstörung hat er nicht einmal je in den Lehrbüchern gesehen, mit denen man sich auf so etwas vorbereitet, sagte mir ein Erdbebenretter, der zwanzig Jahre im Dienst ist.
Aber auch der Rest der Gegend ist hart getroffen, von Iskenderun bis zum Stadtrand von Diyarbakir, von Nordsyrien bis Elazig. eine Gegend so groß wie ganz Portugal. Die offizielle Zahl der Toten liegt heute bei 40.000, aber man hat ja den meisten Schutt noch gar nicht wegräumen können, sie dürfte sich verdoppeln oder verdreifachen. Obdachlos geworden sind wohl Millionen. Jedenfalls vorest, denn die Häuser die noch stehen, müssen jetzt erst einmal untersucht werden, ob sie noch weiter aushalten werden.

Ilya U. Topper, Februar 2023
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Uwe Topper:
Antiochien hatte ich im Frühling 2000 gesehen und in meinen Fahrtnotizen (Auflage 20 Stück) kurz beschrieben. Die Notiz übernahm ich 2016 in mein Buch "Jahrkreuz" (Teil 7, S. 361-362). Unter der Überschrift "Die Geschichte schrumpft" bringe ich drei Beispiele für künstlich erzeugte Leerzeiten, zuerst den großen Abstand zwischen dem Astronomen Ptolemäus und den arabischen astronomischen Schriften.
> Welch ein Sprung über rund 700 leere Jahre!
Und wiederum nur ein Sprung in unserem heutigen künstlichen Zeitgefüge. Schneiden wir an dieser Stelle die eingeschobenen Jahrhunderte aus, wird der Geschichtsablauf verständlicher.

Ein zweites Beispiel liegt in der byzantinischen Lücke vor Augen:
In Antiochien entstand angeblich das paulinische Christentum, hier wurde das Wort „Christen“ erstmals geschrieben. Die sogenannte Peterskirche im Felsen über der Stadt stammt aber erst von den Kreuzfahrern, „mehr als ein Jahrtausend später“, laut Fremdenführer. Wer in dieser Felsenhöhle mit ihrer heiligen Quelle anbetete, weiß man nicht; es fehlen jegliche christlichen Ornamente, wie überall auch sonst in dieser Stadt. Im Museum in Antiochien befinden sich die besterhaltenen Mosaiken des gesamten römischen Gebietes, sie werden ins 1. bis 5. Jahrhundert n. Chr. datiert und zeigen nirgends christlichen Einfluß. Im Gegenteil, sie sind deutlich heidnisch in ihrer Bildaussage. Da gibt es eine griechische Göttin Soteria, „Erlöserin“, aus dem 5. Jahrhundert, und das stimmt nachdenklich, denn da wäre nach Schulwissen das Christentum schon mindestens ein Jahrhundert lang Staatsreligion gewesen! Soter (Erlöser) ist immer männlich: der Christus.
Die Ornamente sind Hakenkreuze, gewundene Bänder, Mäander, auch Kreuze einfachster Form, die uralt und keineswegs christlich sein müssen. Die szenischen Bilder sind gar zu heidnisch: der All-Gott Pan als Bock; sodann Dionysos und die übrige Götterwelt der klassischen Griechen.

antiochien1Zeichnungen Antiochien Museum (Türkeifahrt 2000, S. 28)antiochienmuseum

Die Münzen der byzantinischen Kaiser – in der Sammlung dieses Museums wie auch anderswo – machen erst ab Justin II (6. Jh.) einen oberflächlich christlichen Eindruck; echt christlich werden sie erst ab Konstantin Nikeforos und Phokas (Ende 10. Jh.), und deutlich mit den Kreuzfahrern (ab 1200).
Übrigens wunderte sich schon Carsten Niebuhr (1774) über das völlige Fehlen christlicher Zeugnisse in dieser Geburtsstätte des Christentums. (Anm. 1) Römische Reste sind dagegen reichlich vorhanden, auch Figuren gnostischer oder heidnischer Kultur. Es sind die Reste einer Übergangsform zwischen Heidentum und Byzanz, die ich vorgreifend als aramäische Gnosis bezeichnen möchte. Die Verbindung zur Gnosis bietet sich an, weil zahlreiche alte Kirchen der heiligen Weisheit, Hagia Sophia, geweiht sind, nicht der Gottesgebärerin oder dem Erlöser. Die zeitliche Festlegung dieser Grabsteine und Götzenfiguren ist jedoch völlig unmöglich; nur selten ist griechische oder syrische Schrift damit verbunden, nie eine Jahresangabe. Der Formenreichtum dieser bäuerlich naiv wirkenden Sakralkunst ist erstaunlich, aber doch begrenzbar: Lebensbaum, Pfau, Stier, Erdmutter, Schlange, geflügelte Wesen. Die Übernahme dieser Bilderwelt in die aramäische Kirche ist erkennbar. Der Pfau ging auch ins byzantinische Christentum (und in den Buddhismus) ein. Deutlicher noch ist das Weiterleben dieser Kunst bei den Jesiden sichtbar, in Kurdistan und im Kaukasus.

Während hier im behaupteten Entstehungsbereich der frühchristlichen Kirche christliche Denkmäler fehlen, sind die heidnischen Steinbilder, Mosaiken und Überlieferungen erhalten geblieben. Damit scheidet der Gedanke aus, daß die islamischen Eroberer das Christentum ausgelöscht haben könnten. Die römisch-griechische Welt endet irgendwann abrupt, dann folgt kurz gnostischer Synkretismus (wie zum Beispiel in Hierapolis zu sehen) und bald darauf die türkische Eroberung. Die "Sternanbeter" von Harran, Sabäer genannt, werden zu arabischen Astronomen in knapp drei Generationen, wie am Beispiel von Thabit und seinen Nachkommen gut ablesbar ist.
Wieder bietet sich nur eine Lösung an: Es wird schriftlich ein enorm großer Zeitraum geschaffen; unsere Geschichtsschreibung hat bis zu einem Jahrtausend „Zeit“ eingefügt, die nirgends berechtigt ist. <

Foto aus "Zeitfälschung" (2003, Abb. 25) :antiochienmaria
Frühchristliche Monumentalfigur, angeblich die Muttergottes Maria darstellend, in Antiochien (mit Person zum Größenvergleich).

Anm. 1: Carsten Niebuhr schreibt 1774 über die Stadt Antiochien:
„Antiochia hat für uns Christen nie an Bedeutung verloren, da hier die Apostel zuerst den Namen Christen angenommen haben (Apostelgeschichte XI.26). Das Christentum gewann in dieser Metropole auch so an Bedeutung, daß ihr die Griechen den Beinamen Theopolis verliehen. Jetzt findet man aus der Zeit der Christen fast nichts mehr. Von der großen, dem Apostel Paulus geweihten Kirche ist nur noch ein Wasserbehälter übrig, der vor der Kirche stand. Dort sitzen jetzt Leute, die Brot und Kaffee verkaufen. Außer diesem Wasserbehälter konnte ich keine Zeugen einer stolzen Vergangenheit finden. ... Es gibt in Antiochia nur noch wenige Christen. Ihre Kirche ist eine kleine Felsengrotte. Alle anderen Bewohner sind Mohammedaner, die von Tabakanbau leben. Seltsamerweise wird in Antiochia türkisch gesprochen.“
Niebuhr, Carsten (1774): Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern (Kopenhagen, Nachdruck 1973)

Besser hätte ich es auch nicht beschreiben können, mehr als zwei Jahrhunderte später.

Noch eine Trauerbotschaft:
Am 16. Februar 2023 starb Gunnar Heinsohn in Danzig. Er hatte sich für eine historiografische Lücke von 700 Jahren im 1. Jahrtausend eingesetzt, womit er formal meinem (obigen) Denkansatz nahekommt.
Wir trauern um den großen Denker und Pionier der Chronologiekritik.
Uwe Topper

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