Berlin · 1997 Uwe Topper
Germanische Überlebensstrategien
Antwort auf die Kritik von Alexander Jurisch in ZS 4/96: "Gegen grundlosen Kahlschlag in der Geschichte"
Mein auf dem Hamburger Treffen im Mai 1996 gehaltener "Germanen-Vortrag" hat viel mehr Beachtung gefunden, als dies sonst bei Toppers Aufsätzen oder Vorträgen der Fall war, aber gerade da, wo man etwas hellhörig hätte werden sollen, herrscht weiterhin platteste Tacitusgläubigkeit vor. Die Wochenzeitschrift "Der Spiegel" (Nr.44, 28. Okt. 1996) brachte Titelbild und zwölfseitige Story mit den neuesten Erkenntnissen über "Die Germanen - unsere barbarischen Vorfahren", ohne den geringsten Hinweis darauf, daß man die lateinischen Texte eigentlich erst einmal auf ihre Entstehungszeit und -absicht prüfen müßte, bevor man sie als Beweis zitiert für die im taciteischen Geist rekonstruierten archäologischen Funde. Es herrscht vollkommenes Schweigen und Unkenntnis betreffs Hardouin, Baldauf, Kammeier und der nun schon recht zahlreichen Aufsätze in diesem Kreise zum Thema "Fälschungen".
Und andererseits Aufschrei und Gegenattacken, aus denen ich erkennen kann, daß hier ein heiliges Gefühl verletzt wurde, das auch Alexander Jurisch belastet. Aber mein Vortrag war keineswegs "grundlos", als Überlebender des letzten Krieges bin ich parteilich. Anlaß für die Gegenattacke Jurischs war sicher meine tendenziöse Überschrift, in der die Germanen in Bausch und Bogen zur Erfindung erklärt werden. Da Jurisch eine Einengung, ja Zurechtweisung in der vorigen Ausgabe der Zeitensprünge (4/96) veröffentlicht hat, kann ich mich bei meiner Erwiderung an seine einzelnen Kritikpunkte halten:
1. Zunächst möchte ich noch einmal mit ergänzenden Daten deutlich darstellen, daß ich die "kleineren Schriften" des Tacitus, darunter die Germania, für eine Fälschung im Auftrag von Papst Pius II zwischen 1430 und 1470 halte. Nikolaus Cusano, war an der Transaktion der Tacitus-Handschrift beteiligt (Pralle 70 ff). Sein Desinteresse an den Texten spricht übrigens für deren Wertlosigkeit.
Es muß noch einmal wiederholt werden: Vor dem Beginn der "Wiederentdeckungs"-Aktion" (Pralle im Titel) durch Poggio ab 1427 gibt es nur einen einzigen Hinweis auf den Germania-Text, und zwar bei einem Mönch desselben Klosters, in dem die "kleineren Schriften" des Tacitus später gefälscht wurden, bei Rudolf von Fulda in seiner Schilderung der Überführung der Gebeine des Hl. Alexander nach Wildeshausen (vollendet von Meginhart, siehe Pralle, 46), wo ganze Abschnitte aus der Germania wörtlich den Sachsen zugeteilt werden. Ob dieser Schüler des berühmten Hrabanus eine eigene Quelle verwendete, die später im Tacitus verarbeitet wurde, oder ob auch Rudolfs Heiligenlegende erst im 15. Jh. geschrieben wurde, ist m.E. unwichtig; ebenso auch, ob Fulda oder Hersfeld die Schreibstube der Fälscher war.
Eine weitere Bemerkung Jurischs in Punkt 1 läßt sich noch ausweiten: Auch das entsprechende Gegenstück für England, der Agricola, wirft so viele Fragen auf, daß nicht nur der berühmte Schwiegervater, sondern Tacitus selbst als historische Person in Frage gestellt werden muß. Seine Annalen haben keine bessere Überlieferungsgeschichte als die "kleineren Schriften", denn Monte Casino, wo sich die einzige Vorlage fand, war der andere der beiden Fälscherorte der Humanisten, mit seiner eigenen "benaventanischen" Minuskel (Brunhölzl, 111 ff), und stand in losem Austausch mit Fulda. Man hatte sich dummerweise nicht auf den Namen des Autors geeinigt, neben Gaius taucht Publius Cornelius auf, und Tacitus ist erst Zusatz eines Humanisten im 15. Jh. Die Zusammenfügung der Annalen mit den Historien erfolgte bei der Drucklegung 1515 (Brunhölzl, 140).
2. Die in der klerikalen Fälschung (laut Kammeier nur Verfälschung) des Germania-Textes in Kap. 2 genannten Tungri waren vier kleine Stämme westlich des Rheins. Sie gehörten zu den Kelten, wenngleich von ihnen (nach Cäsar) der Name Germani genommen und auf das gesamte Gebiet nördlich und östlich des Limes übertragen wurde. Es ist gewiß absurd, den Namen, den einige keltische Stämme oder militärische Einheiten trugen, auf die Vielzahl ethnisch völlig heterogener Stämme und Völkerschaften des weiten Raumes zwischen Rhein und Don zu übertragen. Die historiographische Schöpfung einer Germania (und der Germanen als Folge) war eine Präventivmaßnahme seitens der Kurie gegen ein Großreich vom Atlantik bis Prag, wie es wenig später unter Karl V. fast zustandegekommen wäre, wobei die stärkste Bastion der Kirche, Frankreich, erdrückt worden wäre.
Wegen Jurischs Mißverständnis betone ich noch einmal: Der Eigenname Germani ist nicht von den Renaissance-Fälschern erfunden worden, sondern betraf zunächst nur eine kleine Gruppe keltischer Krieger (oder Stämme) an der Maas bzw. deren Kampftechnik. Die Ausweitung dieses Namens und Benützung für ein von den Kelten angeblich verschiedenes ethnisches Konglomerat ist erst die Fälschung, mit der wir heute konfrontiert sind. Würde man alle Völker zwischen Ubiern u nd Hephtaliden als Tungri ansprechen, wäre der Unsinn besser erkennbar, denn durch die Einordnung dieser Völkerschaften als "Germanen" bzw. im gleichen Sinne später konstruierte "Slawen" durch linguistische Definitionen ist uns der vorherige Zustand verschleiert.
3. Hinsichtlich der von mir postulierten Ordonnanzsprache als Grundlage der germanischen Sprachen habe ich mich viel zu knapp ausgedrückt. Eine derartige Konglomeratsprache, die sich aus vielen völlig verschiedenen Substratsprachen zusammensetzt, nimmt Wörter und Strukturen aus dem gesamten zivilisatorisch vereinheitlichten Bereich auf und darum ist es kein Wunder, wenn vom Altai bis zum Atlantik überall Sprachen weiterleben, die große Gemeinsamkeit haben. Aber das bedeutet keine echte genetische Verwandtschaft, keinen Abstammungsbaum, wie ihn die Indogermanisten fordern (hierzu schon 1977, bes. Kap. 21).
An einem jüngeren Beispiel, das mir besser bekannt ist, läßt sich das zeigen: Akbars Heeressprache ist aus (grundsätzlich) fünf Sprachen zusammengesetzt worden, ohne daß etwa diese fünf Völker "in Fleisch und Blut" dabei mitgewirkt hätten. Dieses Urdu basiert n i c h t auf einer Volkssprache, doch heute ist es Volkssprache für Hunderte von Millionen Menschen. Ich verweise noch einmal auf meinen Artikel zur Slawen-Genese (ZS 4/95) und verspreche, in Zukunft einen zusammenhängenden Beitrag zur Sprachentwicklung vorzulegen. Jedenfalls habe ich hier wiederum ein heißes Eisen angefaßt, das mehr emotionsgeladen ist, als einer wissenschaftlichen Diskussion gut tun würde. Wenn wir nur annähernd wüßten, wie Kimbern und Teutonen gesprochen haben, wäre ein Ansatz möglich.
In Ermangelung dessen müssen wir von den Brocken ausgehen, die übrigblieben: gotisch-wandalische Wortfetzen und althochdeutsche Fragmente. Daraus rückschließend ein Protogermanisch und weiter im Verein mit anderen Sprachen ein jahrtausendealtes Indogermanisch mit entsprechenden Völkerschaften zu konstruieren, ist mir zu gewagt.
4. Die schwadronierenden Trupps, die im Römischen Reich im Laufe der Jahrhunderte - abschließend in der Völkerwanderung - die militärische und Verwaltungsherrschaft (mit) übernahmen, können ab dem 4. Jahrhundert als germanisch oder fränkisch bezeichnet werden. Damit ist etwas über Waffengattung, Kampftechnik und Organisation, bald auch über die damit verbundene Ordonnanzsprache ausgesagt, nicht aber über Volkszugehörigkeit oder Kultur, geographische Herkunft oder Religion. Die iranisch-skythische Komponente ist offensichtlich, sollte aber nicht überbetont werden, denn die Hauptmasse wird als Veneti (Wenden) und Kelten zu bezeichnen sein (siehe die grobe Skizze in ZS 2/96, 170), die auch meiner Meinung nach als frühere Kulturwelle in Miteleuropa erkennbar sind, was jedoch mit einer indogermanischen Wanderwelle (dies die alte Vorstellung, die Jurisch noch vertritt), kaum vergleichbar ist. (Hierzu wie schon mehrfach erwähnt: Spengler 1969).
Aber wie konnte Hallstatt durch "indogermanische Einwanderung" untergehen, Herr Jurisch? War es nicht nach gängiger Ansicht schönster Auswuchs der indogermanischen Kultur, die ja mindestens schon 7 Jahrhunderte vorher Europa überschwemmt hatte? Wenn wir aber neue Zeitmaßstäbe anlegen, müssen wir auch diese nebulösen Indogermanen neu definieren, denn die Sprache eines Bronze- oder Eisenschwertes ist zwar eindeutig, aber linguistisch nicht erfaßbar.
5. Jurischs Beobachtungen ergänzen meine Gedanken, sein Problem liegt allerdings wieder beim Indogermanenbegriff, um dessen Auflösung sich immer mehr Leute bemühen (s.a. Friedrich), weil er in dieser konstruierten Weise die Sicht verdirbt. Die Forderung, daß zu rückwärts projizierten Sprachgemeinsamkeiten auch blutsverwandte Völker gehören, die aus einer gemeinsamen Wiege ausströmten und in Wanderwellen Europa und Asien überfluteten, ist zwar noch in volkstümlichen Büchern oder in der russischen und englischen Forschung beliebt, aber seit Spengler nicht mehr zu halten. Persische Motive, Waffen und Haarmode können sich weit verbreiten, ohne daß gleich ganze Völker auf Achse gehen müssen.
6. Wie schon in Punkt 4 angedeutet, bin auch ich der Meinung, daß sich mit der Völkerwanderung etwas spezifisch Protodeutsches durchsetzt, das man heute als das Germanentum bezeichnet. Besser würde man hier noch von Franken sprechen, von Goten und Schwaben usw., aber dieser einmal eingeführte Germanen-Begriff, der in der Romantik auch auch auf Wenden (Wandalen), Waräger, Wikinger u.a. ausgeweitet wurde, kann durchaus sinnvoll sein. Nur sind dann die Skandinavier nicht Germanen, sondern germanisiert (wie ihre Hydronomie zeigt), die Goten stammen nicht aus Gotland, sondern sind (auch) dorthin gewandert, usw. Von germanischer Sitte vor dem Beginn der Eisenzeit zu sprechen, ist dann unrichtig. Besser läßt man die Begriffe in ihrem zeitlichen Zusammenhang, und der liegt für die Germanen in der Völkerwanderungszeit. Der staatengründende Impuls ging sehr wohl von der römischen Reichsidee auf die Barbaren über, er ist eine Zeiterscheinung, kein ethnisches Merkmal. (Ich verweise noch einmal auf See 1970).
7. Jurisch pflichtet mir hier bei, daß die heutigen Volkseinheiten Europas nicht schon seit undenklicher Zeit starr weiterleben, sondern einem Entstehungsprozeß mit kriegerischer Tradition zu verdanken sind. So wollte ich verstanden sein. Volk steht nicht am Anfang einer Bewegung sondern als deren Ergebnis.
Die Betonung der Besonderheit dieses deutschen Volkes, das als Vorlage für die "Germania" gedient haben müßte, ist ein erfrischender Gedankengang Jurischs, der teilweise einleuchtet, andererseits aber auch wieder auf politische Propaganda der Kurie hinweisen könnte, denn wenn wir etwa die Staufer im Hochmittelalter ansehen, wirken sie keineswegs "bockbeinig" oder weltfremd.
Der Widerstand der Magna Germania gegen Rom hatte viele Gründe. Neben den von Jurisch genannten möchte ich auch an die ökologischen erinnern: Der Limes verläuft fast so wie die Nordostgrenze des wirtschaftlich noch sinnvollen Weinanbaus, die undurchdringlichen Wälder sind gewiß keine Erfindung, und ein Reservat für kriegerischen Nachwuchs war den Römern sicher vorteilhaft. Daraus zu schließen, daß die Menschen hinter diesem lateinischen Vorhang eine ethnische Einheit gebildet haben könmnten, ist reines Wunschdenken.
8. Vom Ursprungsort der Germanen habe ich nirgends gesprochen, ein erfundenes Volk hat keinen Ursprungsort. Über die iranische Komponente habe ich mich durch Herodot, Strabon u.a. belehren lassen, allerdings auch eigene Überlegungen, die ja Jurisch noch vertieft, dazu angestellt. Jedenfalls sind Menschen aus dem weiten Raum von Iran-Turan sowie dem Skythenland als Mitwirkende an der Germanenentstehung - im Sinne der Völkerwanderungskrieger - beteiligt gewesen. Das hat mit der Theorie einer indogermanischen Wanderung nichts zu tun. Jurisch zieht selbst den Schluß am Ende seines Artikels, daß es sich bei der Erschließung einer Ursprache um ein "sinnloses Unterfangen" handelt.
Literatur
Brunhölzl, Franz (1971): Zum Problem der Casinenser Klassikerüberlieferung, in Abh. d. Marburger gel. Gesellsch., Nr.3, München.
Friedrich, Horst (1992): Ethnien und morphische Felder, in VFG IV (4-5), 62
Jurisch, Alexander (1996): Die Germania und die Germanen oder gegen den grundlosen Kahlschlag in der Geschichte, in ZS VIII (4) 429
Pralle, Ludwig (1952): Die Wiederentdeckung des Tacitus (Fulda)
See, Klaus von (1970): Deutsche Germanen-Ideologievom Humanismus bis zur Gegenwart (Frankfurt/M)
Spengler, Oswald (1969): Frühzeit der Menschheit (München)
Topper, Uwe (1977): Das Erbe der Giganten (Olten)
(1995): Entstehung des Slawentums in ZS VII (4) 461
(1996): Wer hat eigentlich die Germanen erfunden? in ZS VIII (2) 169 im Archiv
Gedruckt in ZS 2/1997, S.226-231 (Hrg. Heribert Illig, Gräfelfing bei München)
Zur Diskussion und Nachträgen siehe folgenden Beitrag Altes Streitthema: unsterbliche Germanen
Ich möchte einen Kommentar zu diesem Text schreiben: