Das „Compendium“ von Antonius Lilius

Entwurf zur gregorianischen Kalenderreform

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Die Arbeitsthese der Präzessionssprünge, die eine neue Lösung zum Verständnis der Kalenderentwicklung und der modernen Zeitrechnung bietet, wurde von Ilya Topper und mir 2004 hier vorgestellt als erster Entwurf, an dem wir ständig weiterarbeiten. Im Beitrag „Kalender und Präzessionssprung“ (2009) hat Ilya Topper Verbesserungen vorgeschlagen, indem er das Compendium von Lilius sowie katholische und christliche orientalische Kalender zu Rate zog. Hier wird nun das Compendium genauer untersucht.

Berlin · 2009  Uwe Topper topper

Wir hatten festgestellt, daß das Kalenderdatum durch den kosmischen Präzessionssprung vor etwa sieben Jahrhunderten um sieben Tage verschoben wurde und zusätzlich durch die ungenaue Schaltung des Julianischen Kalenders bis 1582 drei weitereTage gewandert war, zusammen also zehn Tage zu spät lag.

In seiner Bulle Inter gravissimas hatte Papst Gregor XIII verordnet: Es sind zehn Tage zu überspringen, weil ein früherer kirchenkalendarischer Zustand wiederhergestellt werden sollte, nämlich der zur Zeit des Konzils von Nicäa, bei dem die Frühlingsgleiche bereits auf dem 21. März gelegen hatte. Dies ist der Ausgangspunkt unserer jetzigen Erörterung.

Unser erster Entwurf hatte zwei kosmische Sprünge über sieben und zehn Tage in den letzten 800 Jahren erfordert, vor etwa 650 und 740 Jahren. Nun sind wir zu der Ansicht gekommen, daß diejenigen Überlieferungen, die uns zwei Sprünge annehmen ließen, sich auf denselben Sprung vor etwa 700 Jahren beziehen. In unserem neuen Modell findet zwischen der Gregorianischen Reform und dem „Konzil zu Nicäa”, das Gregor als Bezugspunkt angab, nur ein einziger Sprung statt. (Andere Sprünge liegen weiter zurück und sind schwerer datierbar; ein Versuch wird dennoch unternommen und demnächst hier veröffentlicht).

Aus archäologischen Zeugnissen wie dem überall auftauchenden Zerstörungshorizont und dem Abbruch der schriftlichen Überlieferung ist der ungefähre Zeitraum des letzten Sprungs einzuengen. Einen aufschlußreichen Hinweis für die Richtigkeit der Überlegungen bietet die Gregorianische Kalenderreform. Wichtiger als die 1582 von Papst Gregor XIII schließlich erlassene Bulle ist der erste veröffentlichte Entwurf von 1577, das Compendium novae rationis des Antonius Lilius. Es gilt als Zusammenfassung des nie veröffentlichten Buches seines Bruders Aloysius Lilius. (Der Text und die Umstände seiner Entstehung sind im internet in der katholischen Enzyklopädie abrufbar und werden hier berücksichtigt).

Der italienische Astronom Aloysius Lilius war ein hochbegabter Mathematiker und hatte tiefere Einsicht in die astronomischen Grundlagen des Kirchenkalenders. In der Kalenderkommission des Papstes Gregor wirkte er vorrangig mit, starb allerdings schon 1576, sechs Jahre vor der Durchführung der Reform. Sein Bruder Antonius faßte auf elf Seiten die wichtigsten Gedanken des Werkes in dem zitierten Compendium zusammen, das 1577 an „christliche Fürsten und berühmte Akademien ... den erfahrenen Mathematikern” verschickt wurde, wie in der Überschrift des Compendiums steht („ad principes christianos et celeberrimas quasque academias... peritis mathematicis“). Das Buch des Aloysius Lilius wurde nie gedruckt, doch die Zusammenfassung im 'Compendium' ist brisant

Der Inhalt dieser Zusammenfassung ist außerordentlich brisant. Leider ist das gesamte Buch von Aloysius Lilius nie gedruckt worden, wie im Compendium gesagt wird: „Es wurde dem Papst Gregor XIII ein Buch des Aloysius Lilius gebracht, ... das weder unbequem noch schwierig den Weg und die Einsicht, diese Sache zu vollenden, vorschlägt, wie ersichtlich.“ („... dum Gregorio XIII pontifex ... allatus est illi liber ab Aloysio Lilio conscriptus, que neque incommodam, neque dificilem viam ac rationem eius rei perficiendae proponere videbatur.“)

Das Compendium ist dermaßen genau überlegt abgefaßt, daß jedes Wort zählt, was verständlich ist bei so einem heiklen Thema. So ist auch das „allatus est illi“ – auf Deutsch: das Buch wurde jenem (dem Papst nämlich) gebracht (zugetragen) – genau durchdacht: Es war nicht vom Papst beauftragt (er kann sich davon distanzieren, falls nötig), und es wird auch nicht gedruckt oder sonstwie zugänglich gemacht. Nur wenige werden es gekannt haben (die Kommission), aber das darin vorgestellte Grundwissen war sicher allen Mathematikern bekannt.

Auch im Compendium spricht nicht der Papst selbst, sondern eine dritte Person, neutral und kühl. Zunächst wollte der Papst nicht die Christenheit mit seiner Reform überrollen. Im Gegenteil, ungewöhnlich zurückhaltend und bescheiden schlägt er die neue Regelung von Lilius vor: „Er hielt es für richtig, zu diesem Thema die gelehrtesten Männer zu befragen, damit diese Aufgabe, die eine Angelegenheit aller ist, zu gutem Ende für alle erledigt werde. .. und damit jene (Fürsten) nach Befragung der besten Mathematiker entweder zustimmen oder, wenn sie einen Fehler finden, diesen verbessern und das Ganze zur Vollendung bringen. ... sowie auch, wenn man irgendwo eine bessere Methode finden würde, was nicht ausgeschlossen wird, daß man sie ihm mitteilen möge, dann könnte er entscheiden, daß ihr gefolgt werde.“ („visum est prudentissimo pontifici de ea re peritissimos quosque huius scientiæ viros consulendos esse, ut res, quæ omnium communis est, communi etiam omnium consilio perficiatur. Cogitarat itaque eum librum cunctis christianis principibus mittere ut ipsi, adhibitis peritioribus mathematicis, illum aut sua sententia comprobarent, aut si quid deesse videretur, id omne absolverent atque perpolirent. Simul ut si qui modus aptior alicubi (quod non desperat) repertus foret, eo communicato, illum potius ipse sequeretur.“)

Eigentlich hatte der Papst vorgehabt, das ganze Buch an alle Interessierten zu schicken, wie dort steht, „aber da dieses Buch noch nicht gedruckt ist, was arbeitsreich und das weitere verzögernd wäre, dürfte es den Astrologen (d.h. Astronomen, Mathematikern), denen diese Einsicht mitzuteilen ist, weniger nötig sein.“ („Sed cum liber nondum typis excusus sit, operosum id atque impeditum futurum erat et peritis astrologis, cum quibus ea ratio communicanda est, minus fortasse necessarium.“)

Dieses Buch, das einerseits sehr bequem und leicht verständlich ist, wurde allerdings auch später nie gedruckt, als die evangelischen Fürsten und Universitäten sich der Papstbulle widersetzten. Das wäre doch ein günstiger Augenblick gewesen, mit dem tatsächlichen mathematischen Wissen aufzutrumpfen. Leider geschah das nie. Selbst heute noch ist das Buch nicht einzusehen, soweit bekannt. Möglicherweise enthielt es Kenntnisse, die schon damals dem Dogma der Kirche entgegenstanden, und heute erst recht verräterisch wären. Vor dem damaligen Hintergrund ist das verständlich, denn dergleichen kam nicht selten vor. Wie wir sehen werden, enthält auch die von seinem Bruder geschaffene Zusammenfassung noch einige Sätze, die aufhorchen lassen.

Es würde also ausreichen, meinte der Papst, wenn „nur die wichtigsten und zur Sache gehörenden Dinge jetzt kurz mitgeteilt würden und alles andere beiseite liegen bliebe.“ („Quare satis esse putavit, reliquis omnibus prætermissis, summa tantum capita, quæ maxime rem causamque contineant, breviter indicare.“) Und damit kommt er zur Sache:

Da der heilige Ostertag den Christen das höchste aller Feste bedeutet, soll es entsprechend dem göttlichen Gesetz und der Vorschrift der Väter des Konzils von Nicäa gefeiert werden, nämlich zwischen dem 14. und 21. Tag des ersten Vollmondes, der am Tag der Frühlingsgleiche oder bald danach eintritt. Darum mußten die Väter sowohl die Frülingsgleiche als auch den Vollmond im Kalender festlegen, damit keine Streitigkeiten aufkommen könnten, was früher geschehen war. Der Ostertag sollte entsprechend der Vorschrift der Väter des Konzils von Nicäa gefeiert werden

Da uns hier die Mondregelung nicht interessiert, lasse ich die diesbezüglichen Punkte weg und konzentriere mich auf den Sonnenlauf. Da sagt Lilius nämlich etwas ganz erstaunliches:

„Während dieses Konzils wurde das Datum der Nachtgleiche auf die 12. Kalenden des April (=21. März) gelegt und fixiert, da die Väter gewissermaßen überzeugt davon waren, daß dieses Datum genau und feststehend war.” („Et quidem æquinoctii sedes in eo concilio ad XII Kalendas Aprilis collocata et constituta est; quam fore stabilem et certam propemodum sibi persuaserunt.“)

Letzteres war nicht der Fall: „Das Frühlingsäquinoktium hat allerdings nicht einfach (= gefällig) diesen seinen Ort beibehalten, sondern seine Stelle unzuverlässigen Schrittes verlassen, bis es herumirrend auf die fünften oder gar sechsten Iden des März (11. oder 10. März) zu liegen kam. Wenn man diesem Irrtum nicht entschieden entgegentritt, dann kommt dieser Tag auf die Wintersonnenwende zu liegen und sogar noch eher, denn er schreitet ohne Ende fort.“ („Verum æquinoctium locum suum non facile tenuit, sed statione deserta, incertis passibus, ad ante diem quintum iam aut etiam sextum Idus Martii errans usque pervenit. Cui errori nisi mature obviam eatur, ad id tempus quo nunc bruma conficitur, accedet aliquando; neque tamen ibi terminus statuetur, quin in infinitum procedat.“)

Wie mag wohl der Satz im Original von Aloys Lilius geklungen haben, daß die Väter von Nicäa „ziemlich (oder: gewissermaßen) überzeugt“ waren, die Frühlingsgleiche sei feststehend? Entweder ist man überzeugt von einer Sache oder man ist es nicht. Der Satz besagt eigentlich, daß sie nicht überzeugt waren, was stimmen dürfte. Damals war die Abweichung der tropischen Jahreslänge vom Julianischen Jahr längst bekannt, nach allgemeiner Ansicht hatten griechische Astronomen wie Ptolemäus und Hipparch Jahrhunderte vorher schon den Unterschied festgestellt. Daß die ungenaue Jahreslänge den Frühlingspunkt im Kalender wandern läßt, müssen die Väter gewußt haben. Man rechnet außerdem damit, daß das tropische Jahr veränderlich ist. Nur so sind die Ausdrücke „ungleichen Schrittes“ und „herumirrend“ zu verstehen. Da die Länge des Jahres nicht konstant ist, sagt Lilius, konnte auch keine Schaltregel die Sonnenwende auf dem selben Tag festhalten.

Das Compendium wird immer genauer: „Schon seit Nikolaus dem Fünften glücklichen Angedenkens, zu dessen Zeit man begann, das Studium der Wissenschaften und freien Künste, das so lange darnieder gelegen hatte, wieder zu beleben und aufzurichten, war es Wunsch und Sorge der Päpste, (Abhilfe) zu versuchen, aber nichts wurde ausersehen, das aufgestellt werden könnte, was nicht in andere große Schwierigkeiten führen würde.“ (Atque equidem ea iam inde a felicis recordationis Nicolao Quinto, cuius ætate meliores literæ et liberalium artium studia, quæ diu neglecta iacuerant, reviviscere et recreari cœperunt, magna summorum pontificum cura atque studio tentata est, sed nihil constitui posse videbatur, quod non in magnam aliquam difficultatem incurreret.)

Ausgerechnet Papst Nikolaus V (1447-1455) wird hier genannt, der Rom vom Schutt befreien ließ und für eine Wiederbesiedelung der Stadt sorgte. Er ließ das alte Straßenpflaster freilegen, Aquädukte wieder herstellen und sammelte Bücher, die Anschluß an die frühere Zeit boten.

Seit dieser Zeit also wollte man den Kalender korrigieren, vielleicht weil dies erst jetzt eine dringende Aufgabe wurde: Der Gedanke drängt sich auf, daß Nikolaus, der erste Bischof von Rom, der die Stadt vom Schutt reinigte, dies nicht 800 Jahre nach ihrer Zerstörung durch die Völkerwanderung tat (wie heute gemeinhin dargestellt), sondern eher wenige Generationen nach einer Katastrophe. Lilius’ Satz gibt somit einen vorsichtigen Hinweis auf die Wiederbegründung der Kirche als geordnetes Gemeindewesen.

Wie lang das neue tropische Jahr nun war, maß der persische Fürst Ulugh Beg in seinem Observatorium („um 1440“), und diesen Wert übernahmen dann die abendländischen Astronomen, auch Kopernikus. Als Nikolaus von Kues auf dem Basler Konzil seine Kalenderkorrektur vorschlug, war dieser Wert noch nicht bekannt, wenn man die kirchlichen Jahreszahlen anwendet, und darum wurde sein Entwurf, sieben Tage zu streichen, abgelehnt (zu Recht, wie man später merkte). Die Schuld für den Schaltfehler wird nicht Cäsar zugeschoben sondern der Unregelmäßigkeit des Sonnenlaufs

Damit ist die Ungewißheit der astronomischen Voraussetzungen für einen genaueren Kalender gut beschrieben, aber noch mehr: Das Sonnenjahr hat keine immer gleiche Länge, sondern ist so unstet, daß die Frühlingsgleiche als herumirrend bezeichnet wird. Die Schuld für den Schaltfehler wird nämlich keineswegs dem großen Julius Cäsar, der laut Compendium den hier besprochenen Kalender eingeführt hatte, zugeschoben, damals könnte der Kalender sogar richtig gegangen sein. Sondern: In der Zwischenzeit ist die Sonne nicht immer regelmäßig ihren Weg gelaufen, und daher ist die Berechnung des Sonnenjahres über längere Zeiträume hinweg nicht möglich.

„Denn was die Astronomie betrifft, so werden zwei mächtige Schwierigkeiten entgegenstehen und wirken gesehen. Zuerst einmal, daß die Länge des Jahres nicht konstant zu sein scheint, weil die gelehrtesten und sorgfältigsten Mathematiker verschiedener Zeiten unterschiedliche Längen herausgefunden haben und überzeugt waren, daß sie nicht allezeit dieselben sind. Da also die Sonne sich so ungenau und veränderlich bewegt, war es allerschwierigst, Schaltungen anzugeben, damit die Frühlingsgleiche für immer exakt im Kalender festliege.“ (Die zweite Schwierigkeit betrifft die Bestimmung des Vollmondes, auf die ich hier nicht eingehe). („Nam quod ad astrologiam attinet, duæ potissimum res obstare atque officere videbantur. Primum ipsius anni vertentis iusta certaque mensura, quæ quoniam a doctissimis ac diligentissimis mathematicis diversis temporibus alia atque alia reperta est, non eadem semperque sui similis esse convincitur. Cum ergo sol tam vaga et mutabili ratione labatur, difficillimum factu erat intercalationes ita dispensare ut æquinoctia ævo perpetuo certas ac fixas habeant in calendario sedes“).

Nun wird im Auftrag des Autors dieses „kleinen Büchleins“ (des Aloysius Lilius) eine Abhilfe vorgestellt. „Er schlägt nämlich als Dauer des (tropischen) Jahres das Alfonsinische Jahr vor, das als Mittelwert der verschiedensten Berechnungen angesehen wird und damit den Fehler niedrig hält, und das bedeutet, daß die Frühlingsgleiche in etwa 134 Jahren um einen ganzen Tag eher liegt.“ („Proponit enim sibi anni Alfonsini mensuram, quæ inter varias media est, atque ideo errori minus obnoxia; ex qua subductis calculis efficitur ut in annis plus minus CXXXIIII æquinoctiorum loca integrum antevertant diem.“)

Seit Julius Cäsar habe sich das Datum um etwas mehr als dreizehn Tage verschoben, sagt Lilius. Diese dreizehn Tage oder stattdessen, weil es der Würde der Kirche besser entspräche, die seit Nicäa verschobenen zehn Tage, seien nun aus dem Kalender wieder zu streichen. Und zwar, indem man während der nächsten 40 Jahre die zehn Schalttage ausfallen ließe, bis dann ab 1620 alles ins Lot käme. Andere seien allerdings der Ansicht, 1582 sollten alle zehn Tage zugleich gestrichen werden. Wie wir wissen, setzte sich der zweite Vorschlag schließlich durch.

Auch für die Zukunft wird diese Regel, nämlich in 134 Jahren einen Tag weniger zu schalten, eingeführt, dann – soweit sich nichts anderes ereignet – bleibt dieser Kalender auf diese Art im Lot. Wie heute noch üblich wurde damals schon festgelegt, daß jeweils beim vollen Jahrhundert, dessen Nennwert nicht durch vier teilbar ist (1700, 1800 und 1900), der Schalttag ausfallen soll. Der Vorschlag dazu sei durch Petrus Pitatus 1564 erfolgt. Sein Versuch, die Frühlingsgleiche Cäsars (25. März) wieder einzuführen und darum 14 Tage zu überspringen, hatte keinen Erfolg. Das Compendium nennt keine Jahreszahlen für Cäsars Reform und Nicäa, nur relative Abstände

Betonenswert finde ich, daß auch das Compendium – wie die Bulle – zu den als „historisch“ hingestellten Zeitpunkten von Cäsars Reform und der nicänischen Osterregelung keine Jahreszahlen nennt sondern nur relative Abstände: 13 Tage bzw. 10 Tage. Man kannte das Problem der Unmöglichkeit, rückwärts Daten zu berechnen, sehr gut und traute sich nicht, erfundene Jahreszahlen zu nennen.

Es liegen aber vier (statt drei) Tage zwischen den beiden „historischen“ Daten (25. Dez. bis 21. Dez.), und das ist nicht mit der Ungenauigkeit des einen Tages zu erklären, die schaltjahrbedingt auftreten kann. Außerdem entsteht der Eindruck, daß einiges schwimmend blieb, denn der 24. wird der Passionszeit Jesus als Äquinoktie zugeteilt, während seine Inkarnierung dreißig Jahre eher am 25. März gefeiert wird (und entsprechend Weihnachten am 25. Dezember). Es wären etwa 130 Jahre nötig für den verschobenen Tag.

Warum man nicht den 24. oder 25. März als Äquinoktie genommen hat, ist schwer aus diesem Streit herauszulesen. Vermutlich war die Ungewißheit zu groß, wieviele Jahre zwischen Cäsar und dem nicänischen Konzil zu veranschlagen seien. Außerdem ging es der Kirche letztlich doch nicht um einen Bezug auf Jesus sondern auf ihren eigenen Anfang, der zu einer Kalenderschöpfung mit Festtagen geführt hatte. Und das war mit dem Begriff Nicäa verbunden. Das Compendium sagt ja auch nicht „zur Würde Gottes (oder Jesu)“, sondern „zur Würde der Kirche“ (ex ecclesiatica dignitate) wolle man den Kalender korrigieren.

Lilius glaubte offensichtlich nicht, die Verschiebung des Äquinoktium sei uhrwerkmäßig über einen größeren Zeitraum verlaufen und erlaube eine genaue chronologische Rückberechnung. Darum werden die Zeitabstände zu Cäsar und Nicäa nicht genannt, sondern es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, das Äquinoktium sei über längere Zeit hinweg „unberechenbar”. Dieser Gedanke wird mehrfach wiederholt; nicht das Fehlen von Beobachtungen sondern die Unstetigkeit des Sonnenlaufs sei schuld: „Da die Sonne sich auf eine solch unbestimmte und veränderliche Weise bewegt, war es sehr schwierig, Schalttage so einzufügen, daß die Nachtgleichen immer auf den gleichen, sicheren Kalendertag fielen”. Die wichtigste Schwierigkeit bestünde darin, „daß die genaue Länge des Jahres selbst von den gelehrtesten und sorgfältigsten Astronomen zu verschiedenen Zeiten verschieden herausgefunden wurde, sodaß sie nicht immer gleich zu sein scheint.”

Mit den „gelehrtesten und sorgfältigsten Astronomen” meinte Lilius wahrscheinlich berühmte Gestalten wie den Griechen Hipparch oder den Araber Battani (Albategnius, der auch spanisch gedruckt wurde), die zu ihrer Zeit sehr genaue Messungen der Jahreslänge angestellt hatten und zu recht unterschiedlichen Ergebnissen gekommen waren: Hipparch maß (angeblich um 140 v. Ztr.) die Länge des tropischen Jahres als 365 ¼  minus 1/300 Tage, das heißt 365 d, 5 h, 55 min., etwa sechs Minuten länger als das heutige Jahr (365 d, 5 h, 48 m, 45 sec.). Battani dagegen maß (etwa um 900 AD) das Jahr mit 365 d, 5 h, 46 m und 24 s, also etwa zwei Minuten kürzer als heute, und acht Minuten kürzer als bei Hipparch.

Lilius schlägt nun vor, als „Mittelwert“ (das stimmt nicht) das sogenannte Alfonsinische Jahr zu wählen, dessen Name auf Alfons X von Kastilien zurückgeht und das mit 365 d, 5 h, 49 m, 16 sec. nur 27 Sekunden länger ist als der heutige Wert. Die Epoche der Alfonsinischen Tafeln wird heute auf 1252 AD gelegt, aber die bei Lilius erwähnte Jahreslänge ist sehr viel später erst ermittelt worden; sie stammt vielleicht von dem Perser Ulugh Beg (um 1443). Da man im Vatikan nicht gut einen Mohammedaner als Vorbild dieser Berechnungen vorweisen wollte, gab man Alfons den Weisen, König von Kastilien und Schwaben, als Urheber an, obgleich seine Jahreslänge nicht der neuen sondern der damals bekannten und von den Arabern höchst genau ermittelten Länge entsprach.

Die Präzession versteht man als den Unterschied zwischen tropischem Jahr (von Äquinoktie zu Äquinoktie gemessen) und siderischem Jahr (ein genauer Umlauf der Erde auf ihrer Bahn, gemessen vor dem Sternhintergrund). Daher ist die Kenntnis der genauen Länge des tropischen Jahres wichtig, um die Präzession zu berechnen. Battani fand heraus, daß die Präzession ein Grad in 66,4 Jahren beträgt. Seine Zeitgenossen errechneten sehr ähnliche Werte: Kuschair gibt 66,25 an, Sufi 65,4, Biruni (1031 AD) 68,7, Haraqi (etwa 1112 AD) 65,7 Jahre.

Das läßt darauf schließen, daß es sich um sorgfältige Beobachtungen handelte, nicht voneinander abgeschrieben, und daß der Unterschied zu heutigen Werten – 1 Grad in 72 Jahren – nicht auf  Ungenauigkeit beruht, sondern, wie Lilius annimmt, auf einer tatsächlichen Veränderung des Sonnenlaufs. Dies war seinerzeit noch Allgemeinwissen. Innerhalb eines längeren Zeitabschnittes war der Präzessionswert offensichtlich weitgehend gleichbleibend. In den Büchern des Wissens von Alfons X galt ebenfalls der Mittelwert 66, also keineswegs das ihm im Compendium zugeschriebene „Mittelmaß“, das nahe dem heutigen liegt.

Zwischen dem Konzil von Nicäa und Gregor muß ein Einschnitt gelegen haben, der den Jahreslauf durcheinander brachte und eine genaue Rückberechnung unmöglich machte, wie das Compendium erkennen läßt. Diese kosmische Katastrophe dürfte vor allem an der veränderten Präzession ablesbar geworden sein, wie in unserem Modell (2004) beschrieben: Die Erdachse schwang auf der Präzessionslinie vorwärts und überstrich ruckartig einen größeren Raum. Nach mehreren Jahrzehnten ungleicher Bewegungen (Trepidation) pendelten sich alle grundlegenden Größen – Jahreslänge, Eliptikschiefe usw. – wieder auf konstante Werte ein, die den früheren nahe lagen.

Wegen dieses „Herumirrens“ oder Zitterns der Bahnbewegung (Trepidation genannt, auch Kopernikus rechnete damit) ist es schwierig, den Zeitabstand zwischen dem Ruck und der Kalenderreform durch Gregor festzustellen: Wenn der Sprung eine Woche im Kalender ausmachte und die Bewegung der letzten 250 Jahre vor Gregor (also etwa ab 1300 AD) wieder normalisiert war, was zwei weiteren Tagen als Schaltfehler entsprechen würde, dann bliebe noch ein zehnter Tag für den Zeitraum der Trepidation, deren rechnerische Auswirkung wir nicht präzisieren können.

Des weiteren bietet der Text des Compendiums Tafeln zur Osterberechnung entsprechend der vorgesehenen Reform und erklärt die lunaren Grundlagen dieser notwendigen Änderung. Darüber wäre an anderem Ort zu sprechen.

Als Jahr der Kalenderänderung ist 1582 vorgeschlagen, der Monat ist noch nicht festgelegt, er soll „nach seiner Eignung“ (mense aptius) gewählt werden. Für die Zukunft werden Tabellen gebracht, die bis 2199 benützbar sind, und rückwirkend sogar bis zum Jahr 1500. Während der Blick in so ferne Zukunft einigermaßen erstaunt (eine Naherwartung des Jüngsten Gerichts kennt seit Trient niemand mehr), ist die rückwärtige Festlegung ebenfalls bemerkenswert. Warum werden keine Tabellen für 1400 oder 1300 gezeigt? Weil eben der Sonnenlauf unregelmäßig war und daher eine Rückberechnung von Ostern irreal wäre. Die Einführung der AD-Zählung ist ja wohl auch erst zwei Jahrzehnte nach 1500 erfolgt.

Am Schluß macht der Schreiber des Compendiums noch einmal eine großzügige Geste gegen die Evangelischen und schlägt vor: „Wenn aber jemandem die Berechnungen des Alfonso zu unsicher erscheinen mögen, um sich darauf verlassen zu können, und er jüngere Werte vorzieht, so wisse er, daß die Form und Verwendungsart des klugen Epakten-Zyklus, den Lilius erfunden hat, solcherart ist, daß sie den Berechnungen von Kopernikus oder irgendeines anderen leicht angeglichen werden kann, indem man sie zum Beispiel durch die Tabellen des Kopernikus ersetzt, die wir hier anfügen. (Quod si alicui Alfonsi calculi incertiores esse videbuntur quam ut illis fidendum putet, potiusque recentioribus adhærendum existimet, is profecto intelliget eam esse huius artificiosi cycli tabulæque epactarum a Lilio excogitatæ dispositionem ac digestionem, ut nullo negotio sive Copernici, sive cuiusvis alterius calculis possit aptari, si tabella æquationis ex illis confecta, pro ea, quam ad marginem scripsimus, substituatur veluti hæc, quam exempli gratia a Copernici ratione non multum distantem apposuimus.) Die Tafel, die Kopernikus erarbeitet hatte, ist dem Text beigefügt. Auch Kopernikus nahm an, daß das Jahr nicht immer gleich lang gewesen sei

Was die Veränderlichkeit der tropischen Jahreslänge angeht, so war Kopernikus derselben Meinung wie Aloysius Lilius, und das scheint damals die vorherrschende Meinung gewesen zu sein. In seinem Comentariolus sagt Kopernikus: „Da sich also die Äquinoktial- und die übrigen Hauptpunkte der Welt recht beträchtlich verschieben, begeht jeder zwangsläufig einen Fehler, der aus diesen die Gleichheit der Jahresumwälzungen abzuleiten sucht. Diese wurden nach vielen Beobachtungsergebnissen zu verschiedenen Zeiten ungleich gefunden.“ Er bringt dann die bekannten Beispiele der Griechen und Araber und fährt fort: „Die Unterschiede scheinen sich aber nicht aus einem Fehler der Beobachtungen hergeleitet zu haben. Denn wenn man die einzelnen Beobachtungen genauer betrachtet, findet man, daß sie stets der Veränderlichkeit der Äquinoktialpunkte entsprochen haben.“ (Übers. von F. Rossmann 1986).

Die Möglichkeit, daß das Compendium sehr viel später erfunden und somit eine klerikale Fälschung sein könnte, schließe ich nach reiflicher Überlegung aus. Gerade die dem katholischen Dogma völlig entgegengesetzte Ansicht von einer Veränderlichkeit der Himmelsumläufe wäre daraus verbannt worden. Auch die durchaus wohlgesonnene Herbeiziehung von Kopernikus und seiner Tabelle wäre zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr erfolgt. Zudem soll es zahlreiche Dokumente geben, die das Vorhandensein des Compendiums zum damaligen Zeitpunkt bezeugen. Für diese führe ich ebenfalls die katholische Enzyklopädie an. Evangelische Zeugnisse habe ich noch nicht gefunden.

Die Mitglieder der Kalenderkommission werden zwar meist aufgezählt, aber es sind doch nicht alle bekannt, und da sie oft wechselten, ist einiges über das Personal unklar. Auch das Todesjahr von Aloys Lilius (1576) ist nicht unumstritten. Sein Buch ist „verschollen“ und „nie entdeckt worden“. Es gibt außer dem Compendium seines Bruders Antonius noch zwei weitere Texte, die den Inhalt bringen:

Einmal der handschriftliche Bericht der Kommission an den Papst Gregor, und dann das Compendium des Ciaconus, gedruckt durch Clavius (der spätere Chef der Kommission und letzte Überlebende). Diese beiden Texte wären zu untersuchen!

Etwas zurechtgemacht scheint mir folgende Mitteilung: „Es ist sicher, daß Aloisius Lilius sein Werk vor der Thronbesteigung von Gregor XIII begonnen hatte und auch vor der Veröffentlichung des neuen Breviers (von Paul V); er arbeitete zehn Jahre daran.“ Das ist nicht unwahrscheinlich, aber wenn etwas als „sicher“ bezeichnet wird, ist es meist das Gegenteil.

Zu konsultieren wäre, wenn erreichbar, das „Büchlein“ von Alexander Piccolomini, mitregierender Bischof von Siena „Libellus über die neue Form des kirchlichen Kalenders“ (Rom 1578).
Zitiert werden auch zwei Bücher von Teofilus Martius aus Siena: „Abhandlung über die Kalenderreform“ (nach 1578) und „Kurzer Bericht über den Streit der Kalenderkongregation“. Dieser Autor beschuldigte die Kommission der „Neuerung“ und des Fehlens von Achtung vor den krichlichen Vätern von Nicäa; er wollte die Frühlingsgleiche zum römischen Datum des 24. oder 25. März zurückverlegen. Das Frühlingsdatum beim Konzil von Nicäa ist nicht wirklich überliefert, der 21. März wird als allgemein bekannt vorausgesetzt.

Häufig wird als der echte römische Tag der Frühlingsgleiche der 25. März angegeben. Durch den Veroneser Mathematiker Petrus Pitatus wurden 14 Tage zu überspringen vorgeschlagen, damit käme das Datum auf den 25. März und dürfte einer echten Tradition folgen, denn die Kirche legt Jesu Empfängnis auf diesen Tag. Der 21. dagegen ist für Nicäa reserviert und muß beobachtet worden sein, denken wir, weil alle alten Kirchen diesen Tag einhalten, auch die abgetrennten orientalischen. Das besagt etwas über den Entstehungszeitpunkt, den die Kirche gerne vorweisen würde; für uns bringt er die letzte allgemeine Angabe kurz vor dem Sprung.

Laut katholischer Enzyklopädie sind „Antworten auf das Compendium bekannt von Kaiser Rudolf, den Königen von Frankreich, Spanien und Portugal, den Herzögen von Ferrara, Mantua, Savoyen, Toskana und Urbino, von den Republiken Venedig und Genua, von den Universitäten oder Akademien von Paris, Wien, Salamanca, Alcalá, Köln und Löwen und von mehreren Bischöfen und einer Anzahl von Mathematikern.“

Der Artikel besagt dann weiter, daß, obgleich die Anworten keineswegs alle eindeutige Zustimmungen waren, in der Bulle (inter gravissimas) doch hervorgehoben wurde, daß der Erlaß in Abstimmung mit den christlichen Fürsten geschah, was einigermaßen zutrifft: Während die (katholischen) Fürsten mit der Art der Reform einverstanden waren, hatten die Mathematiker zahlreiche Einwände, die nicht unter einen Hut zu bringen waren. Und da eine erneute Untersuchung angesichts der vielen schon erfolgten auch nichts bessseres bringen würde, zählte der politische Nutzen. (Hierzu werden zitiert: Kaltenbrunner und Schmid, beide kenne ich noch nicht).

Die mathematischen Vorschläge werden so aufgezählt: Das Datum der Frühlingsgleiche soll der 25. März sein, wie Cäsar es gelegt hatte (Humanistenwunsch), oder der 24. März, wo es bei der Auferstehung Jesu lag (Vorschlag von der Universität Salamanca), oder der 21. März, wie bei den Vätern von Nicäa, oder man ließe es am 11. März. Es seien mehrere Briefe in dieser Hinsicht erhalten. Die Antworten verzögerten die Reform um ein Jahr, heißt es in der Enzyklopädie (was nicht stimmen kann, denn im Text selbst steht schon, daß 1582 das Jahr der Änderung sein soll). Einige Antworten kamen erst danach in Rom an.

Die Bulle wurde am 24. Februar 1581 vom Papst unterzeichnet und am 1. März 1582 veröffentlicht, Neujahr im Julianischen Kalender des Vatikan. Im selben Jahr im Oktober wurde der (Rück)-Sprung über zehn Tage vollzogen.

So gelesen bringt das Compendium eine ganze Reihe von Argumenten, die genau zu unserer Arbeitsthese passen, oder anders gesagt: Lilius und die Beauftragten der Kalenderkommission wußten sehr wohl, was wissenschaftlich vertretbar ist. Sie wandten sich ja auch an alle Fürsten und Mathematiker der Christenheit, da konnten sie sich keine falsche Propaganda erlauben, sonst hätte der Vorschlag von vorneherein keine Erfolgsaussicht gehabt. Erst nachdem die Evangelischen und Orthodoxen nicht mitzogen, war man im eigenen Hause darauf bedacht, die unpassenden Fakten zu vertuschen. Dies geschah schon in der Bulle und wurde dann jahrhundertelang fortgestezt. Daß das Compendium überlebt hat und heute allgemein zugänglich ist, grenzt an ein Wunder.

Im 18. Jahrhundert schwenkten die Evangelischen dann doch auf die Reform ein, und da sie dies ohne Offenlegung der Hintergründe taten, zogen sie am selben Strang der Vertuschung mit. (Die Orthodoxen haben es bis heute nicht geschafft, aber einige Ostkirchen haben es sich vorgenommen, wie gerade in den Nachrichten verlautet).

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