Berlin · 2016 Uwe Topper
Besprechung des neuen Heftes der "Zeitensprünge" (1/2016)
Im Editorial wird ein Fanfarenstoß losgelassen: Das Hauptwerk von Illig erscheint auf Italienisch! Hurra, herzlichen Glückwunsch und viele Leser wünscht der Rezensent. Illig hat für das Buch ein zusätzliches Kapitel über die Leerzeit in Italien verfaßt, das er uns hier (S. 78-110) – vorwegnehmend – präsentiert, erfreulich für Leser, die wegen eines einzigen Kapitels nicht das ganze Buch kaufen wollen oder nicht genügend Italienisch-Kenntnisse besitzen. Die Beweisführung für die italienische Leerzeit von 300 Jahren ist die gewohnte: Die Geschichtsschreibung sowie auch die Archäologie haben ein gemeinsames Stiefkind, nämlich den Zeitraum von 600 bis 900 AD. Der kommt auch in Italien zu kurz.
Was ich daraus schließe: Daß auch dort die nachträgliche Ausbesserung des Zeitrahmens zwischen Römerreich und Renaissance hastig und spät erfolgte, nachdem schon viel vergeben war an Dokumenten und Bauten. Da für viele archäologische Datierungen die Vorgaben nördlich der Alpen bestimmend wurden („man dürfte wie in Deutschland generell davon ausgehen...“, S. 79), kann man nichts anderes erwarten als Fundleere bis ins 11. und 12. Jahrhundert konventioneller Jahreszählung. Diese späte Epoche ist für Illig leider uninteressant, so fiel ihm auch nicht auf, daß in Italien die Renaissance sehr früh einsetzt, gut zwei Jahrhunderte, sogar 250 Jahre, vor der mitteleuropäischen. Wie das Rätsel ohne Aufdeckung der Chronologie-Erstellung gelöst werden kann, ist immer noch schleierhaft.
Die arabische Anwesenheit, besonders auf Sizilien, gerät in Zweifel (hier mit Berufung auf die Arbeit von Heinsohn 2003). Mir war anläßlich meiner Sizilienreise 1999 ebenfalls aufgefallen, daß es dort fast keine Moschee-Ruinen gibt. Eine Grundmauer, die als ehemalige Moschee angepriesen wird, hat eine völlig falsche Qibla (Gebetsrichtung), scheidet also aus; bleibt noch der Dom in Palermo, der alles mögliche gewesen sein kann. Wichtig ist dazu Illigs Feststellung, der seine Aussage von 1992 wiederholt, „dass große (arabische) Werke aus Gründen der Ehrfurcht veraltet worden sind, dass also auch islamisches Wissen jünger als geglaubt ist.“ Aus Ehrfurcht? Oder Verstrickung im chronologischen Dschungel?
Das Heft ist diesmal nur halb so dick wie in früheren Jahren, der Grund dafür wurde wohl im vorigen Heft erklärt. Es ist wiederum fast ausschließlich von Illig selbst gefüllt, eine große Leistung! Daneben nennenswert ist noch Andreas Otte mit Erwiderung auf Werner Thiels Ansichten zur Varusschlacht. Thiel erkennt zumindest: „Tacitus ... verwob Fakten mit Erfundenem“ (S. 34) – aber wie das zu trennen sei, ist ihm wohl unklar. Nach Gutdünken geht es sicher nicht. Und bei den alten Jahreszahlen bleiben beide Streitenden allemal, auch wenn in diesem Kreis längst herausgestellt wurde, daß Tacitus erst im 15. Jh. geschrieben wurde, und sogar: wer der Schreiber war (Topper in ZS 2/1996).
Der erste Aufsatz im Heft gibt auch Nicht-Historikern zu denken: Die haarfeinen Steinfugen an altägyptischen Bauten – und nicht nur dort – sind unerklärbar, die Vollkommenheit des Steinbaus bei den Pyramiden ist so unübertrefflich, daß sie selbst mit heutigen Mitteln nicht zu schaffen ist. Nachdem alle Hilfsvorstellungen ausscheiden, bleibt nur der Gedanke an eine Technik, wie sie erst in der Zukunft erfunden werden wird. Wer denkt hier an Erich v. Däniken und seine Astronautengötter? Illig, der diesen ersten Beitrag in seinem Heft dem kürzlich verstorbenen Dr. Horst Friedrich, unserem langjährigen Kollegen, widmet, bespricht das Pyramiden-Buch von Hans Jelitto von 1999, und im Anschluß den in „Zeitensprüngen“ mehrfach zu Wort gekommenen Dr. Dominique Görlitz. Für Sammler von Rätselhaftem eine Fundgrube.
Und dann geht’s nach Kreta, wo der Diskos von Phaistos schon auf seine Entzifferung wartet. Eigentlich müßte ja endlich klar geworden sein, daß es sich um eine Fälschung handelt, wie ich unnötigerweise immer betont hatte, so ist nun doch ein weiterer Schlag in dieser Richtung erfolgt: Ein Kunsthändler aus New York, Jerome Eisenberg, legt seine Gründe vor, die auf Fälschung hinweisen. Illig schweift dann ab, ohne ein Urteil gefällt zu haben, zu Wunderlich und Spengler gegen Evans, der gewohnte Streit um die richtige Deutung von Knossos.
Zusammen mit Werner Frank, der sich in „Zeitensprünge“ schon früher zu diesem Thema geäußert hatte, schreibt Illig eine Glosse, „Tricksereien mit Schalttag und Kalender“. Es geht um die Kalenderreform, zu der ich auf dieser Webseite selbst mehrere Beiträge gebracht habe. Deswegen erlaube ich mir, mit kleinlicher Rechthaberei einzugreifen.
In der Süddeutschen Zeitung zum 29. 2. 2016 schreibt Christian Endt locker aber wissenschaftlich tönend zum Mechanismus des an diesem Tag anfallenden Schalttages. Da sich gleich mehrere Fehler darin verbergen, hat Illig einen Leserbrief an die Zeitung geschrieben, der zwar nicht gedruckt, aber von Endt beantwortet wurde.
Zuerst werde ich anmerken, was ich selbst an dem Text von Endt falsch finde:
1. Er spricht den alten Ägyptern zu, sie hätten gemerkt, „dass die Erde für ihre jährliche Reise um die Sonne nicht genau 365 Tage braucht“ – das ist eher unwahrscheinlich. Die alten Ägypter hatten vermutlich ein geozentrisches Weltbild, das heißt, sie glaubten, daß die Sonne um die Erde kreist. Das heliozentrische Weltbild gab es damals zwar auch schon, aber nicht gerade bei den Ägyptern.
2. Der Satz geht weiter: „nicht genau 365 Tage braucht, sondern knapp sechs Stunden länger.“ Auch das ist unwahrscheinlich, jedenfalls haben sie es nirgends vermerkt, weder auf Papyrus noch auf Tempel- oder Grabwänden. Es gibt nur ein Dekret, eine Inschrift aus der Stadt Kanopus, wo schlicht von einem alle vier Jahre zuzuschaltenden Tag die Rede ist, also glatt sechs Stunden. „Knapp sechs Stunden“ ist dagegen eine Erkenntnis der Griechen, die zwar damals in Ägypten herrschten – es war die Zeit der Ptolemäer, insofern sollte von den „alten Ägyptern“ nicht mehr gesprochen werden – aber die hatten ihre Kenntnisse weder im ägyptischen noch in ihrem eigenen Kalenderwesen zur Wirkung kommen lassen. Hipparchs genaue Kenntnis des tropischen Jahres kursierte nur in Fachkreisen. Cäsar hat dann den glatten Vierteltag von Sosigenes, einem Ägypter aus Alexandria, in seine Kalenderreform übernommen, und Augustus hatte das fürs ganze Römische Reich durchgesetzt (Julianischer Kalender).
3. „Im 16. Jahrhundert fiel auf,“ ... dass das (tropische) Jahr „nicht genau sechs Stunden zu kurz ist, sondern 5 Stunden und 49 Minuten.“ Das ist aber nach heute einhelliger Meinung bereits im „12./13. Jh.“ aufgefallen, sei auch im 15. Jh. eifrig in der Kirche diskutiert, aber erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts von ihr korrigiert worden. Die Zeitgenossen von Cusanus und Regiomontanus wußten es längst.
4. Seit Cäsar „hinkte die Zeitrechnung ganze zehn Tage hinterher.“ Eigentlich nicht die Zeitrechnung sondern der Kalendertag. Aber ganze zehn Tage? Das hätte ein Quartaner nachrechnen können: 11 Minuten in 1600 Jahren macht wieviel? Runde 13 Tage. Hier müßte ein anderer Grund vorliegen, aber darauf kommt Endt nicht.
5. Nach Gregors Reform 1582 „bildet der Kalender die Dauer eines Sonnenjahres ziemlich gut ab.“ Hier fehlt der wichtige Punkt: Erst nach jeweils 400 Jahren geht er ziemlich genau. Der persische Kalender ist sehr viel genauer in Jahreslänge und Rhythmus: Schon nach 33 Jahren stimmt er wieder perfekt.
Soweit Herr Endt, dem ich diese fünf Fehler oder Ungenauigkeiten vorwerfe.
Nun kommt Illigs Leserbrief. Das ist verdienstvoll, auf dergleichen Journalismus überhaupt zu antworten. Er greift der Prägnanz wegen nur zwei Punkte heraus, denn die sind schon schlimm genug: 1. Die alten Ägypter hatten nie einen Schalttag eingefügt, und 2. Die Rechnung stimmt nicht! Es müßten 12,82 Tage sein, die in Gregors Zeit zuviel waren.
Endt führt nun das Kanopus-Dekret als Gegenbeweis vor, hat aber kein Glück damit. Der Stein von Kanopus behandelt eigentlich eine andere Thematik und wurde auch nicht beachtet. Wichtiger dagegen: Endt sagt, die Rechnung beziehe sich jetzt nicht mehr auf Cäsar sondern auf das Konzil von Nicäa (wie jeder weiß).
Illig antwortet postwendend: „Dummerweise liegen uns Akten dieses Konzils vor“... Nein, möchte ich zwischenrufen, es sind keine bekannt! Es gibt nur einen Brief von einem Bischof, darin steht nichts dergleichen. Illig betont das auch anschließend, wobei er den Brief Kaiser Konstantin I. zuschreibt. Er unterstellt dann Papst Gregor eine „Notlüge“, wobei mir nicht klar wird, worin diese bestand.
Daß der Journalist Endt schließlich mit einer Korrektur in Sachen 21. März = Nicäa einlenkte, ist zwar verständlich, hat aber vermutlich die Leserschaft der Zeitung nicht erreicht. Er wandte sich dann an Prof. Werner Frank mit der Frage, wie denn dieser 21. März zustande gekommen sei. Und Frank antwortet, indem er Christopher Clavius (1603) anführt: Zu Cäsars Zeit habe es zwei Äquinoktien gegeben, eine politische (25. 3.) und eine astronomische Taggleiche (22. 3.).
Das führt am Ende zu dem Ergebnis: Die nicänische astronomische Äquinoktie lag wie die von Cäsar am 21. 3., und der 22. 3. wurde zur frühesten Ostermöglichkeit. Das hieße dann, Cäsar und Nicänum zeitgleich zu setzen. Oder anders gesagt: Die dazwischenliegenden offiziellen 369 Jahre verpuffen zu nichts. Sinngemäß ist das Illigs weltbewegende These der drei Phantomjahrhunderte. Nur daß er diese 300 Jahre nicht zwischen den beiden „zeitgleichen“ Daten Cäsar und Nicäa streicht, sondern beim Jahr 1000 AD, womit sogleich wieder eine Menge „Dokumente“ und Chronologiekonstruktionen, die für die Zeit davor festgelegt wurden, ins Nichts versinken.
Im Schlußsatz spricht Illig noch einmal von der „päpstlichen Notlüge“, die mir trotz Grübelei nicht in den Sinn kommt. Oder meint er die kirchlich verankerte Zeitspanne zwischen Cäsar und Nicäa? Von der ist in der Bulle und im Compendium nur indirekt die Rede, nämlich als Verschiebung der Äquinoktie um drei Kalendertage. Eine Chronologie wird dort nicht berührt.
Im nächsten Beitrag kommt wieder ein Gegner zu Wort, Philipp von Gwinner, der schon im vorigen Heft die Meinung verrtrat, daß wegen der verschiebbaren Finsternisse nur 232 Jahre zu streichen wären. Man lese meine Rezension dazu, der Schlußsatz lautete: „Spiegelfechterei in Fantasia.“ Diesmal streicht Gwinner nicht 232 Jahre sondern 263 (S. 118), pirscht sich also an die 297 heran, und begründet das so: „Da Plutarch selbst keine biografischen oder zeithistorischen Hinweise gegeben hat, ist diejenige Passung heranzuziehen, die den Vorgaben am besten entspricht.“ Huch – da haben wir es: Passung nach Laune, und schon haben wir eine neue Chronologie. Damit hat sich Gwinner (las er nicht meine ausführliche Besprechung seines vorigen Artikels?) lächerlich gemacht und Illig ist vorläufig gerettet. Übungsfeld für Anfänger in Sachen Chronologiekritik.
Zweimal wird im Heft wikipedia kritisiert, was Illig nicht davon abhält, aus diesem Monster an anderen Stellen positiv zu zitieren. Gewiß sind nicht alle Einträge in diesem Monster Unsinn, aber die Tendenz ist eines Lexikons unwürdig.
Es folgen noch einige lustige Schnipsel wie S. 128: „Das erfundene Böhmen“, wozu ich 2001 (in: Erfundene Geschichte) ein kleines Kapitel verfaßt hatte (S. 172-175) und 2006 (in: Kalendersprung S. 304) noch den von Walther Steller erbrachten Nachweis nachtrug, daß Wenzel Hanka selbst der Fälscher war.
Und das wär’s dann schon wieder, etwas mager diesmal, leider. So kann die Rezension auch zeitnäher erscheinen. Nachzutragen wäre noch, daß Hermann Deterings Augustin-Aufdeckung keine nennenswerten Reaktionen gezeigt hat, trotz Illigs wohlwollender Besprechung im vorigen Jahr (ZS 1/2015). In meinem Buch „Die Große Aktion“ (1998, S. 141) hatte ich den Kirchenvater Augustin provisorisch um ein Jahrtausend (von 413 auf 1413) in eine von Mönchen geprägte Zeitströmung versetzt und über den Hersteller geschrieben: „Wer genau es war, das herauszufinden überlasse ich dem glücklichen Christen, der sich mit der Materie abgibt.“ Ein Dank also an Dr. Detering!
Uwe Topper, Berlin, im Mai 2016
"Zeitensprünge 2/2016" . Die Rezension
Nun ist Heribert Illig bald Alleinbestreiter dieser Zeitschrift, nur vier Artikel stammen von anderen, und dabei ist außer Andreas Otte, der dankenswerterweise die amerikanischen Velikovskyaner beobachtet, nur ein zustimmender Beitrag erschienen. Wenn nicht anders vermerkt stammen die von mir besprochenen Texte von Heribert Illig. Der schönste Artikel zuerst:
„Tod dem Schönen! Eine zynische Anklage“ (S. 276-281)
Wir sind da alle derselben Meinung, Zeitenspringer wie Gegner: Den Vögeln darf man nichts antun, sie sind unser Gut im Leben und gehören zu unserer Schönen Welt. Was wäre unser Haus und Garten ohne den Wiedehopf?
Nun, nicht jeder von uns besitzt Haus und Garten, schon gar nicht in Istrien, wie Dr. Illig. Aber für den Wiedehopf setzen wir uns allemal ein. Er sieht schön aus, huuuupt so unnachahmlich, zieht liebevoll seine Jungen auf, und Männchen und Weibchen sehen verwechselbar gleich aus mit einander ergänzenden Rechten und Pflichten. Außerdem macht er jährlich eine weite Reise bis nach Südafrika (das wußte ich gar nicht), ein bewundernswerter Bursch. Im nächsten Jahr landet er wieder auf unserem Giebel, ruft seine Gemahlin herbei und bespricht mit ihr hörbar aufgeregt die Lage des neu zu erstellenden Nestes.
Wenn er nicht unterwegs in Afrika oder gar in Italien gefangen und geröstet wurde, oder einfach getötet aus Lust am Morden. Das ist der knackende Punkt, den Illig zur Sprache bringt: Der Wiedehopf und viele andere andere Vögel, vor allem aber ihre Nahrung, die Insekten, könnten ausgestorben sein, wenn im Jahr 2020 das Gesetz zu ihrem Schutz wirksam wird.
Gewiß, mit diesem Appell an Pharmafirmen und Vogelgourmets rennt der Herausgeber offene Türen ein bei seinen Lesern. Dennoch ist es ihm zu danken, daß er 6 Seiten seines Heftes zur Verfügung stellt, dazu in dem von ihm gepflegten scharfen Tonfall, der ja das Lesen beflügelt. Und dazwischen gut verpackt wendet er sich einmal mehr gegen die Leute von Wikipedia (die er im Übrigen in allen seinen Schriften meist zustimmend zitiert), die das vielleicht in dieser Verpackung nicht merken und darum nicht sofort zurückschlagen, denn gegen diesen Rufmordshaufen kommt ja niemand mehr an, das Unternehmen hat sich verselbständigt. Es geht Illig hier um die Titulierung als Verschwörungstheoretiker. Es ist gewiß nicht angenehm, als solcher bezeichnet zu werden, aber so ganz abwegig ist das auch nicht. Der Kritiker wird sogar namentlich genannt (eine Seltenheit dort) und zitiert: Illig gehe ... „von einer Verschwörungsthese aus, ohne jedoch Verschwörer und Zweck der Verschwörung anzugeben.“ – und das stimmt einfach nicht: Die Verschwörer werden durch Illig von Anfang an genannt: Kaiser Otto III und Papst Silvester. Ebenso der Zweck: Herbeireden oder -zwingen des Jüngsten Gerichts bzw. der tausendjährigen Friedenszeit. Das ist alles so oft besprochen und bekrittelt worden, daß ich mir sparen kann, darüber mehr zu schreiben. Der Wiki-Autor hat einfach unrecht; eine ausdrücklichere Verschwörungsbehauptung gibt es nicht.
Vom allgemeinkritischen Öko-Ideal geht der Artikel weiter zur brennend wichtigen Jetztzeit (TTIP) und schaut in die Zukunft: Eine Roboterbiene könnte die fehlenden Bestäubungsinsekten ersetzen, entwickelt ist sie schon, nur mit dem Strom hapert es noch. Wie üblich – unser Hauptproblem ist der Strom. Geht sparsam damit um, möchte ich anfügen: spart Strom, Leute! Und lest diesen Artikel von Illig, er ist scharf gewürzt!
Da wir schon mal im Vogelbereich sind – übrigens: sechs hübsche Sittiche zieren diesmal das Titelbild des Heftes – gehe ich rückwärts, der vorige Artikel heißt: „Übers Vogelhirn“ (S. 265-275).
Da geht es viel um das Gehirngewicht, wobei die Bedeutung dieses Wertes als unsinnig hingestellt wird. Dahinter aber liegt der alte Streit: Kann Wissen und Verhalten vererbt werden? Unterirdisch ist Lamarck geblieben, der Instinktbegriff wird zum Mogeln drübergestülpt. Instinkt kann nicht einerseits angeborenes Verhalten bezeichnen und andererseits das erlernte Verhalten der Vögel im Schwarm beschreiben. Daraus hätte Illig einen interessanten Aufsatz machen können, so bleibt es beim kurzen Anstoß.
Nun aber endlich von vorn: Nach einer noch unausgegorenen Bemerkung zu den Fälschungen (oder nicht) von Bernstorf und Nebra, deren Fortsetzung spannend werden könnte, und Kommentaren zum Fugenrätsel an den Pyramiden, die aber das Rätsel nicht lösen helfen, kommt der wichtigste Artikel des Heftes: vierzig Seiten zum „Fehlen richtiger Bibliotheken und zugehöriger Räume vor 1350“ (S. 138-178).
Gewiß denkt der Eingeweihte sofort an Luciano Canfora (deutsch 1998; siehe Topper 2001), den sympathischen und unübertrefflichen Kenner der klassischen Antike, der die historiographisch dorthin versetzten Bibliotheken unwiederbringlich verschwinden ließ; er wird im Literaturverzeichnis auch genannt, im Text kommt er nicht vor, weil er ja einen ganz anderen Zeitraum bearbeitet hat. Illig geht es ums Mittelalter, da sieht es nicht ganz so übersichtlich aus, aber am Ende steht recht plausibel, daß die großen Buchbestände und entsprechenden Räumlichkeiten nur erdacht wurden. Als Beispiel bringt er eine namentlich nicht genannte Bibliothek, die ein Romanschriftsteller verherrlicht habe, Umberto Eco, der uns damit ein völlig falsches Bild vom mittelalterlichen Buchbetrieb vermittelt. Zumindest in dem von Illig besprochenen Spezialzeitraum bleibt wenig an Realität für viele Bücher und ihre Regale. Ab dem 14. Jahrhundert sieht er dann mehr Möglichkeiten. Was ich punktweise anzweifle. Wenn er mehrmals die päpstliche Bibliothek von Avignon mit rund zweitausend Bänden erwähnt (für AD 1369, 1411 und S. 151 ohne Jahreszahl), dann kann ich ihm zurufen: Ich war dort! Auch bei der offiziellen Führung durch den Papstpalast wurde keine Bibliothek gezeigt, auf meine Frage gab es dort nur einen Erker mit Schreibtisch (Topper 2003, S. 161).
Ähnlich sah es in vielen Klöstern aus, wie Illig mit fleißig gesammelten archäologisch-architektonischen Nachweisen belegt. Und was die vielen Bücher angeht – sie müssen in Truhen und Schränken (Armarien) aufbewahrt worden sein, die fabulös berechneten Regale sind eher Spinnerei. Warum? Das erwähnt der Kenner Illig leider nicht, ist aber selbstverständlich: Pergament und Papier sind bevorzugtes Material für Mäuse und Ratten zum Nestbau (und schmecken auch nicht schlecht, wenn man so arm ist wie eine Kirchenmaus). Ich kann ein Lied davon singen; gar mancher meiner geschriebenen oder gedruckten Schätze ist feingeraspelt in der zweiten Regalreihe wieder aufgetaucht. Eine Katze ist das mindeste, was man als Bibliothekar füttern muß, doch davon ist in den Klöstern nie die Rede. Bleiben also nur die gut verschlossenen Behältnisse, und die bieten nicht viel Platz. Eben, die Anzahl der vorgeblich aufbewahrten Bücher, die Illig schon erschreckend gering findet, war eher noch viel kleiner, bevor der Buchdruck einsetzte.
Der nicht gerade zielstrebig aufgebaute Artikel regt zum Nachdenken an, zitiert lesenswerte Kollegen wie Paul C. Martin, und vor allem: er soll fortgesetzt werden.
„Der rätselhafte Koran“ (S. 195-206) beginnt als Rezension eines vor fünf Jahren erschienenen Buches von Barbara Köster, die sowohl Günter Lüling als auch die Saarbrücker Schule (Luxenberg, Puin etc.) verarbeitet hat. Das erregte natürlich Aufsehen im akademischen Betrieb und scharfe Kritik seitens der Mohammedaner, basiert es doch auf hundert Jahre alten Erkenntnissen europäischer Wissenschaftler (wie Goldziher), die auch im innerislamischen Lehrbetrieb nicht umgeworfen werden. Die Enzyklopedie des Islam war bisher weitgehend maßgeblich für islamische Theologen. Leider hat Köster unsere chronologischen Erkenntnisse nicht einbezogen, das hätte ihre Arbeit vielleicht vereinfacht.
Oder auch unnötig verkompliziert, denn Illig schließt an seine Rezension einen neuen Datierungsansatz für den Islam (schon wieder einen) an, den er an einigen Bauten durchspielt. Meines Erachtens hat Illigs neuer Ansatz keine Chance auf Verifizierung, wenn er die Zeitrechnung Kat Araba statt auf 622 (ausgedacht) „probehalber“ auf 450 AD ansetzt, also um „172 Sonnenjahre“ verfrüht.
Wenn zwei Flüsse zusammenströmen, fließen sie noch eine Weile nebeneinander her, ohne sich zu mischen, aber nach einigen Kilometern ist es nicht mehr möglich, die beiden Wässer getrennt zu betrachten. Für Jahreszahlen gilt das ebenso. Jedenfalls läßt sich nach mehreren Jahrhunderten nicht mehr feststellen, wer wann die beiden Zeitströme nebeneinanderstellte. Gescheitert sind in diesem Sinne sowohl der ungebremst fleißige Klaus Weißgerber als auch der frühe Mitarbeiter Manfred Zeller. Das Herumschieben von Jahreszahlen und Leerzeiten wirkt nach so vielen Jahren von Versuchen und Vorschlägen inzwischen peinlich.
Das spürt man auch in dem „Kommentar zum Ansatz der Larssons“ (S. 239-242). Da geht es um das Propagieren einer neuen „Lückenlänge“ (Phantomzeit), es ist die Rede von „feindlicher Übernahme“, „juristischer Klage“, „Geldversprechen“ und „Kapital schlagen“, alles ohne genauere Ausführung, es dreht sich um das Ehepaar Larssons, die 218 Jahre vorschlagen; das sind erfolglose Versuche, Illigs 297 Jahre zu falsifizieren. Mit klarer Sprache wird auch Wolfhard Schlosser abserviert, der über Eklipsendaten versuchte, die Kontinuität der Historikerzeit zu beweisen. Erfolglos. Und dann folgt eine Tabelle mit den Ansätzen von Zeitensprünge-Autoren, die alle dieselbe Phantomzeitthese unterstützten, nur jeweils eine andere Zeitlänge vorschlugen. Außer Ulrich Voigt, der schlicht Null Jahre erkannte, reichen die anderen zehn von 200 bis 1000 Jahren, ein weites Feld. Darunter ist auch Renate Laszlo mit „297 und 300 Jahren, aber ... an anderer Position.“
Das könnte den Eindruck erwecken, daß Illigs These mit wissenschaftlicher Strenge durchdiskutiert wurde und nur im Detail verbesserungsbedürftig sei. Aber das Detail ist schon störend, wenn nur ein Jahr anders liegt, weil dann die Schaltjahre nicht mehr stimmen, wie der Rezensent vor vielen Jahren feststellte. Sogar Fomenko und Marx werden anschließend noch erwähnt, obgleich es sich bei Fomenko um verschiedene historiographische Intervalle handelt (keine Phantomzeit) und Marx gnadenlos jede Art von Phantomzeit ablehnte und statt dessen auf der Unmöglichkeit beharrte, dergleichen Kalkulationen anzustellen, was der Rezensent voll unterstützt.
Anschließend sehen wir einige verführerische Bilder mit kurzem Text von einem wohlwollenden Neuling, Mathias Dumbs: „Wanderung eines antiken griechischen Skulpturentypus quer durch Eurasien“ (S. 243-254).
Ganz so erstaunlich, wie Dumbs meint, ist der Einfluß griechischer Plastik in Asien nicht. Man denke an Baktrien oder Bamian, vor allem Gandhara (um Taxila) und dessen Fortströmen in Richtung Ostasien. Der hellenistische Einfluß auf den Buddhismus kann durchaus an der Kunst gezeigt werden, wie auch umgekehrt indische Kunstelemente in die byzantinsiche und katholische Ikonographie eingingen. Die Übernahme des griechischen Elementes „Standbein-Spielbein“ in buddhistischen Gestalten ist überraschend, aber dann auch wieder nur wenig belegt, und die völlige Nacktheit der griechischen Frauengestalt in Indien recht selten. Zwischen der Aphrodite von Knidos (Bild 2) und der Durga aus Kambodscha (Bild 5 und 6) sehe ich kaum noch Gemeinsamkeiten. Erwähnung verdient die Einflußnahme dennoch in unserem Arbeitsgebiet: Sie liegt sieben Jahrhunderte auseinander (von den römischen Marmorkopien an gerechnet), und das ist einfach zuviel für eine Kunstströmung, die – auch wenn sie einen so weiten Weg wie den von Hellas bis Kambodscha zurückzulegen hatte – handwerklich und ideell „ankommen“ will. Die Hinweise auf eine chronologische Neuordnung, wie der Autor am Schluß andeutet, haben wohl auch Illig bewegt, den netten kleinen Beitrag zu übernehmen.
Der Nachruf auf Christoph Marx, eingestandenermaßen Gründer dieser ganzen Bewegung in Deutschland, fällt sehr knapp (eine Seite mittendrin, S. 264), unwillig, ja abwertend aus. „Er war der Mann für Zwischenreiche, Dunkel- und Grauzonen.“ beginnt der Nachruf. Als ob die dunklen Zeitalter nicht das Hauptthema unseres ganzen Forschens wären. Für Illigs Promotion hatte Marx nur „Unmut“ übrig. Illig dagegen denkt „an ihn als einen klugen und charmanten Gesprächspartner, der als grimmiger Pamphletist alles wieder einriss, was aufzurichten er begonnen hatte.“ Das tun große Geister: Ergebnisse annulieren, wenn sie sich als falsch erwiesen haben. Könnte Herrn Illig ein Vorbild sein.
„Neues von den Dracologen?“ (S. 282-285)
Besprechung eines Buches von Josef Reichholf. Frei herumliegende versteinerte Saurier gab es früher gewiß mehr als heute, die Relikte wurden häufig wie Reliquien aufbewahrt; zumindest kann sich der Mensch an Hand solcher Funde schon früh sein Teil gedacht und „Drachen“ als lebendiges Mittelding zwischen Saurier und Waran ausgemalt haben, wie Illig nahelegt. Ob sie wirklich alle ausgestorben waren? Ich habe an Biotope gedacht, die zum Überleben der Saurier geeignet waren – der oberrheinische Grabenbruch zum Beispiel – so daß die Siegfriedsage doch auf einen realistischen Hintergrund zurückgreifen konnte. Das mag eine Spinnerei ohne Beweis sein, anregend und mit Hoffnung auf weitere Erkenntnisse ist sie dennoch. Aber so, wie Reichholf sich das denkt, ist es kindisch, das hat Illig gut herausgekehrt.
Die reichhaltige Fauna am Rande des Niltals im alten Ägypten zeigt zumindest soviel: Die Sahara lebte ‚damals‘ noch. Warum das „ein für die ägyptische Chronologie wichtiger Hinweis“ ist, wie Illig sagt, bleibt unklar. Bei Reichholf ist die Zeit vom achten bis zweiten Jahrtausend v. Ztr. gemeint, und diese sieben Jahrtausende schrauben Illig-Heinsohn ja gerade herab auf zwei, ohne daß von der Tierwelt der Wüste die Rede wäre.
Schön daß auch mal Bölsche (1929) zitiert wird, unsere Jugendlektüre...
Druckfehler wie Sinnfehler gibt es auch immer wieder. Ich erwähne mal hier die „schlesische Eider“ (S. 282), das ist der Fluß, in den Spanuth seinen Phaeton stürzen ließ. Er fließt aber nicht in Schlesien sondern in Schleswig-Holstein.
Unter den Fundsachen am Schluß ist die letzte beachtenswert (S. 290): Luis Buñuel äußerte sich zu den vier apokalyptischen Reitern und identifizierte den letzten und schrecklichsten als Symbol für die Medien. Wozu die „Zeitensprünge“ zu rechnen wären.
Uwe Topper im Oktober 2016
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