Berlin · 2015 Uwe Topper
Die Länge des tropischen Jahres
Konnte man mit archaischen Mitteln die Länge des tropischen Jahres bestimmen?
Die Frage mag sich seltsam anhören, nachdem wir auf dieser Webseite und in vielen Vorträgen stets davon ausgingen, daß die alten Griechen und Araber und vermutlich schon die Assyrer dieses Problem längst gelöst hatten, und zwar mit Minutengenauigkeit. Archäoastronomen beantworten diese Frage mit einem klaren Ja, wogegen Historiker, die sich nur gelegentlich mit diesem Thema beschäftigen, die Frage eher verneinen. Mich interessiert hier, wieviel Wissen ich bei den Alten voraussetzen muß und wie kompliziert der Vorgang und die aufgewendeten Mittel sein müssen, und schließlich: können die Ergebnisse minutengenau sein, wie angenommen wird?
Ein von Laien häufig vorgebrachter Einwand lautet schlicht: Warum sollten frühgeschichtliche Völker die Jahreslänge dermaßen genau berechnen? Es scheint ihnen, daß das seinerzeit überflüssig war. Darauf einzugehen erfordert weltanschauliche Argumente, was ich hier keineswegs vorhabe. Ich nehme einfach an, daß Wissensdurst als ausreichender Grund für die Durchführung der tatsächlich sehr simplen Handhabungen ausreicht.
Die Mittel: Einige lange schnurgerade Holzstangen, etwas Schnur, ein tragbares Wasserbecken.
Die Arbeit: Anzeichnen des Sonnenschhattens an Mittag über eine lange Reihe von Jahren hinweg.
Vorwissen: Die Fähigkeit zu geometrischem Denken.
Bedingung: Ausdauer und Weitergabe des Erreichten an jüngere Helfer.
Das soll reichen?
Im vorigen Sommer habe ich es ausprobiert und in diesem Frühling wiederholt. Daraus ergab sich zwar nicht der angestrebte Wert – man sollte ganzjährig über Jahrzehnte hinweg die Messungen ausführen – aber zum Erklären des Arbeitsgangs ist dieser kleine Ausschnitt für unsere Frage ausreichend.
Als erstes stelle ich eine kerzengerade, mehrere Meter lange Stange auf einer größeren freien Fläche auf und beobachte deren Schattenlauf. Damit keine Verzerrungen des Schattens vorkommen, ebene ich die Fläche mit langen Stangen und einem Wasserbeckcn horizontal ein. Ich nahm dafür eine Bauhandwerker-Wasserwaage, aber mit einem flachen metallenen oder irdenen Becken sollte es auch gehen. Zum genauen vertikalen Aufstellen der Stange verwendete ich ein einfaches Lot, einen Stein an einer Schnur. Nun ziehe ich mit Hilfe einer Schnur, oder, weil diese sich dehnen könnte, besser mit einer geraden Stange mehrere Kreise um den Schattenstab und merke die Schattenspitze an verschiedenen Tagen an, wenn sie die Kreise kreuzt.
Zum selben Kreis gehörende Kreuzungen von Vormittag und Nachmittag verbinde ich und halbiere diese Verbindungslinie. Die Halbierungspunkte verbinde ich mit dem Schattenstab und erhalte dadurch die Symmetrieachse, die Mittellinie des Schattenlaufs. Durch Wiederholung an verschiedenen Tagen des Jahres läßt sich die Genauigkeit verbessern. Wenn der Schatten mit dieser Linie übereinstimmt, ist Mittag, der halbe Weg zwischen Sonnenauf- und untergang. Die genaue Festlegung der Mittagslinie ist wichtig, sie hängt von vielen Einzelheiten ab. Sie sollte möglichst in der Zeit um die Sommersonnenwende erstellt werden, weil dann der Schatten den geringsten Bogen durchläuft, während er an den Gleichentagen sehr steil ist, was die Mittellinie verschiebt.
Den Endpunkt des Schattens auf dieser Linie zeichne ich täglich an. Zur Eingrenzung des etwas verschwommenen Schattenrandes habe ich ein Kreuz auf der Spitze der Stange angebracht. Den Verlauf der Linie habe ich mit flachen Platten gepflastert, dadurch sind die Striche haltbar. Das ist nun mein Tageskalender.
Zu diesen einfachen Handgriffen kommt ein wissensdurstiger Mensch wohl zu jeder Zeit und an jedem Ort. Wenn er aufmerksam seinen Kalender verfolgt, stellt er über mehrere Jahre hinweg fest, daß die Tagesmarkierungen ungenau wiederkehren. Erst nach jeweils vier Jahren stimmen sie wieder ungefähr mit den ersten Marken überein. Nach längerer Beobachtung – ich halte 16 oder 32 Jahre für ausreichend – erkennt der Beobachter das erste Kalendergesetz, indem er die Tagesmarken abzählt: Alle vier Jahre fehlt ihm ein Tag. Er schaltet ihn ein, den Schalttag.
Hier wird der erste Einwand laut: Dieser frühgeschichtliche Mensch müßte zählen können, mindestens bis 366. Die Antwort heißt Nein, er muß nicht soweit zählen, er kann Steinchen auf einen Haufen legen und sie nach Zwanzigergruppen ordnen, den Rest behält er übrig. Die Zwanzigerordnung ist sehr alt, alle Menschen haben zehn Finger und Zehen. Es gibt sehr alte Merksprüche, die diese zwanzig Glieder kennzeichnen; so entstanden Zahlen, aber trotzdem muß der Mensch weder Zählen in unserem Sinne noch Schreiben. Er hat ein Gedächtnis, außerdem bewahrt er die Steine eines jeden Jahres gesondert auf.
Und nun kommt eine weitere Beobachtung, die uns unserem Ziel näherführt: Der Schatten wandert im Laufe der Tage vom Stab weg und nach einem halben Jahr wieder zum Stab zurück, dann wieder weg. Wenn wir nun beide Wendepunkte des Schattenlaufs, den Endpunkt im Sommer und im Winter, markieren, haben wir die beiden Sonnwenden des Jahres. Das erreichen wir erst nach einer Reihe von Jahren, wie auch das ganze Verfahren erst im Laufe längerer Benützung die Fehler preisgibt und zur Genauigkeit verhilft. Schließlich ist es soweit: Unser Kalender zeigt nicht nur an, daß in jeweils vier Jahren ein Tag mehr eintritt, also die Tagesmarke alle Jahre um einen Vierteltag weiterrückt, sondern auch, daß dies nach längerer Zeit nicht mehr stimmt; der Viertel-Schalttag wird (heute) nach 32 Jahren einmal ausgesetzt. Mit kleineren Einheiten als Vierteltagen können wir bei dieser Arbeitsweise nicht umgehen. Das macht nach 128 Jahren einen ganzen Tag aus.
Ob das wirklich ablesbar ist? Bei optimalen Bedingungen schon. Warum sollten die alten Ägypter so hohe und so absolut gerade Obelisken aus härstestem Stein aufgestellt haben, wenn sie nicht den Kalender damit eichen wollten? Diese Wunderwerke wurden später nach Byzanz und Rom verschleppt und mußten dort demselben Zweck dienen, wie Kaiser Augustus bezeugte (siehe Buchner).
Einwand: Die ägyptische Technik und Wissenschaft ist nicht archaisch. Benützung von Schrift und Zahlen läßt deutlich eine genauere Ausarbeitung der gestellten Aufgabe zu als unser Modell. Die klassischen Griechen wie Anaximander von Milet (6. Jh. v.Chr., siehe Ideler) benützten sogar ein skaphe (Schaff, wie Scheffel), ein Viertel einer großen Hohlkugel, zum Ablesen der Schattenspitze. Damit wird die Verzerrung, die bei der Projektion der Schattenlänge auf die ebene Fläche auftritt, ausgeschaltet.
Die Schwierigkeiten, mit denen ich mit meinem archaischen Modell zu kämpfen hatte, lagen ganz vordergründig: Die Schattenspitze ist immer verschwommen, denn zum Kernschatten gesellt sich ein Halbschatten, durch den die genaue Anzeichnung ungenau werden kann und erst nach langer Übung gelingt. Ich benützte Hilfsmittel wie lange Stangen, die ich kreuzweise an die Stabspitze hielt, und aufrechte Steine zum Erkennen des Halbschattens, es geht wirklich: Man kann einen verschwommenen Schatten so eingrenzen, daß er markierbar wird. Die Alten hatten ein Kreuz oder besser noch eine Lochscheibe auf die Spitze des Stabes gesetzt.
Glücklich ist der Beobachter, wenn er wie der Ägypter immer sonnigen Mittag hat. Ich führte meinen Versuch auf der geografischen Breite von Byzanz aus, da sind Sonnentage reichlich.
Allein schon die Bestimmung des Wendepunktes fand ich schwierig. Man braucht dazu eine Reihe von Jahresdurchgängen, um den Hin- und Rücklauf der Schattenspitze in den Tagen davor und danach anmerken zu können. Durch Abzählen der Anzahl zwischen zwei symmetrischen Tagen und Halbieren der Summe erlangt man den Wendetag. Und durch Abzählen der Tage von einem Wendepunkt zum nächsten über viele Jahre hinweg erhält man die kalendarische Jahreslänge.
Wie erwähnt, merkt der (heutige) Beobachter, wenn er ein sehr genaues Kalendermodell aufgebaut hat, nach 32 Jahren, daß ein Vierteltag weniger nötig ist, also nach 128 Jahren ein ganzer Tag. Ob wir uns die Alten als sehr traditionsbewußte oder eisern forschende Astronomen vorstellen wollen, oder ob das tropische Jahr „früher“ (etwa bei den Assyrern) kürzer und damit der Unterschied leichter festzustellen war – es kommt dieses Ergebnis heraus: Das Jahr ist über längere Zeit hinweg etwas kürzer als 365,25 Tage. Und dieser kleine Unterschied ergibt das genaue Durchschnittsmaß des tropischen Jahres im jeweiligen Zeitraum und damit die „Fehlschaltung“ des Kalenders über die Generationen hinweg.
Gewiß, für den bürgerlichen Kalender war dieses Wissen nicht unbedingt nötig; es reichte aus, wenn der dafür beauftragte Beobachter den Wendetag jährlich bekanntgab. Aber für Menschen mit gesunder Neugier und Forscherdrang war es möglich, die tropische Jahreslänge mit ausreichender Genauigkeit zu berechnen.
Literatur:
Buchner, Edmund (1982): Die Sonnenuhr des Augustus (Mainz)
Ideler, Ludwig (1838): „Über den Ursprung des Thierkreises“, in: Abh. Akad. Wiss. (Berlin) S. 12
Uwe Topper, Frühling 2015
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