Der literarische Architekt Vitruv
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Berlin · 2020  Uwe Topper topper

Der literarische Architekt Vitruv
Wer schrieb das berühmte Buch über Architektur?

"Die berühmten zehn Architekturbücher des Römers Vitruv, angeblich Zeitgenosse
von Augustus, werden auch heute wieder gern gelesen, denn sie
enthalten recht seltsame Meinungen über die Architektur der alten Griechen
und Römer.
Angaben zur Erstausgabe (editio princeps, >Wiegendruck<) des Vitruv konnte
ich in meinen Lexika nicht finden. Es gibt eine illustrierte Erstausgabe von 1511 von
Fra Giovanni Giocondo (gest. 1515 in Rom), dem Lehrer von Julius Cäsar
Scaliger (also dem berühmten Vater des Chronologieschöpfers).
Dürers maltheoretisches Werk Unterweisung (gedruckt 1525) nimmt bezug
auf »Fittrufius«, ein Entwurf dazu soll schon ab 1508 vorhanden sein. Man
nimmt ja allgemein an, daß Vitruv schon im 15. Jahrhundert >wiederentdeckt<
worden sei.
1521 gibt es erneut eine illustrierte Vitruv-Ausgabe (von Cesariano), die
dann spätestens Dürer vorgelegen haben müßte, wenn die Jahreszahlen der
Renaissance irgendwie verläßlich wären (was sie bei strenger Prüfung nicht
sind). Im X. Band von Vitruv sind anekdotische Kapitel zum Festungsbau
enthalten, die eher in die Dürer-Zeit passen, der ja auch eine Schrift über das
Verteidigungswesen schrieb (1527). ...
Im Tagebuch seiner Hollandreise (1520) erwähnt Dürer den schreibenden
Vitruv ebenfalls, als er die Krönungskirche in Aachen sah (S. 72), hergerichtet
für die bald erfolgende Kaiserkrönung von Karl V; dieser hatte marmorne Säulen
aus Rom über die Alpen bringen und nach den Plänen von Vitruv
(». . . nach Vitruvius' Schreiben«) aufstellen lassen. Heute wird die Aufstellung
der Säulen Karl dem Großen zugeschrieben, von dem Dürer vielleicht
noch nichts wußte. Wenn aber Vitruvs Pläne für Karl V wichtig waren, dann
war Vitruv sein Zeitgenosse." (Topper, Kalendersprung 2006, S. 251 f)

Soweit also war ich vor 15 Jahren gekommen, ohne das Rätsel lösen zu können.

In Lexika wird Vitruv zuweilen als "antiker Architekt und Ingenieur" bezeichnet, obgleich man nicht weiß, ob und wann er irgendein Bauwerk entworfen oder errichtet hätte. Er ist Autor eines zehnbändigen Buches Über die Architektur, mehr ist nicht bekannt. Es gilt als einziges erhaltenes antikes Werk zu diesem Thema. Allerdings ist das Latein schauderhaft und sogar mißverständlich, wie alle Übersetzer bezeugen. Es kommen auch Rückgriffe auf die Umgangssprache vor, ein typisches Kennzeichen der frühen Renaissance. Illustrationen wären vielleicht dienlich zum Verständnis, es gibt aber keine. Die älteste Handschrift soll aus dem 9. Jh. stammen.
Zum Leben von Vitruv haben wir keine Anhaltspunkte außer denen, die in seinem Werk selbst andeutungsweise vorkommen und damit bei Fälschungsverdacht wertlos sind. Der Widmung entsprechend müßte der Autor zur Zeit des Augustus gelebt haben. Wann er gestorben ist, bleibt unbekannt.

Fluchtpunktperspektive

Dies fällt besonders auf: Vitruv kennt die zentralperspektivische Ansicht (I, 2), die er Scenographia nennt. An zwei Stellen beschreibt Vitruv die Fluchtpunktperspektive, zuerst in Buch I, Kap. 2, noch etwas knapp und dadurch schwierig zu verstehen:

"Die perspektivische Ansicht ist eine die Stirnseite und die zurücktretenden Seiten darstellende Zeichnung, bei welcher die Richtungen aller Linien einem Zirkelmittelpunkt entsprechen." (zit. nach Reber S. 23)

Sodann etwas ausführlicher in Kap. VII, im Vorwort 11:
"Zuerst hat Agatharch, als Aeschylos zu Athen seine Tragödien auf die Bühne brachte, eine scena gemacht und eine Abhandlung darüber hinterlassen. Durch ihn angeregt, haben Demokrit und Anaxagoras über dieselbe Sache geschrieben, nämlich darüber, wie die Linien, wenn der Mittelpunkt an einer bestimmten Stelle angenommen wird ..., nach den Naturgesetzen dem Ort der Sehkraft und der geradlinigen Ausdehnung der Sehstrahlen entsprechen müssen, damit deutliche Bilder von undeutlichen (d.h. entfernten) Gegenständen in den Bühnenmalereien die Erscheinung der Gebäude wiedergeben könnten und das auf ebenen und frontalen Flächen Dargestellte teils zurückweichen, teils hervorzuragen scheine (zit. nach: Boehm, 1969, S. 16)."
Schauen wir uns römische Mosaike an, stellen wir immer wieder leicht irritiert fest, daß die Künstler die Perspektive nicht beherrschten. Statt nach hinten sich zu verjüngen streben die Leitlinien nach vorne zum Betrachter hin auf einen Punkt. Von Fluchtpunktperspektive kann hier nicht die Rede sein. Und doch hat Vitruv sie voll verstanden.
Diese Darstellungsweise gilt ja gerade als bahnbrechende Neuerung der italienischen Renaissance. Sie taucht auf den Gemälden im späten 15. Jh. in schrittweiser Vervollkommnung auf. Allgemein wird ihre Erfindung Brunelleschi und Alberti zugeschrieben.
Nun sind wir ja daran gewöhnt, daß Renaissance und klassische Antike große Ähnlichkeit haben und nebeneinander bestehen können. Aber – hat denn niemand je daran gedacht, daß hier 1500 Jahre ohne Zwischenglieder übersprungen werden? Dies ist ja nicht dasselbe wie in der Dichtung, wo man auf alte Themen und Mythen zurückgreifen kann, auch nach tausend Jahren noch. Architekten müssen ihr Handwerk lernen, und es wurde ja viel gebaut in den angeblichen tausend und mehr Jahren zwischen den beiden Glanzpunkten der Zivilisation.
Was nun den Wert der 10 Bände des Vitruv "Über die Architektur" betrifft, so staune ich über die Präsenz dieser Texte noch um 1700. Er wird auch direkt neben Alberti gestellt.
Katharina Krause schreibt zu Zeichnungen französischer Architekten um 1700 (Teil 2):
"Sie begnügten sich daher mit den kurzen Äußerungen zweier Autoritäten: Vitruv und
Alberti. Vitruv fordert in der Planung drei Zeichnungen: den Grundriß, den orthogonal projizierten Aufriß und die perspektivische Ansicht, die er Ichnographia, Orthographia und Scenographia nennt. Alberti grenzt die Zeichnung des Architekten durch ihre größere Rationalität von der des Malers ab."

Zeichnung: Proportionslehre des Vitruv nach Scamozzi (Nürnberg 1678)
Rupp 1964, S. 8

Vitruv Proportion

Individuelle Autorschaft und Plagiat

Vitruvs Sicht auf die Antike ist zuweilen erschreckend weltfremd. Die seltsame Ansicht, daß Plagiat oder ungerechtfertigte Zuschreibung eines Gedichtes oder Theaterstücks bestraft werden müsse, war der Antike noch fremd, kam aber in der Renaissance auf und wurde nach 1500 immer wichtiger. Vitruv beschreibt mit skurril erdachten Episoden, in denen sogar ein Plagiator vom Tyrannen oder vom Pöbel hingerichtet wird, ein brutales Verhalten, das in der Antike undenkbar war (VII, Vorw.).

Astronomie

Vitruv empfand es als göttliches Wunder, daß der Winkel der Erdschiefe genau 24° beträgt und damit geometrisch leicht darzustellen ist. (Jahrkreuz, S. 45). Die Ausdrucksweise ist nicht gerade klassisch zu nennen. Aber es gibt handfestere Anzeichen für eine neuzeitliche Abfassung. Vitruv bemüht sich (im IX. Buch) um Wiedergabe altertümlicher astronomischer Erkenntnisse, wie den bekannten Beginn der Zodiakzeichen bei 8°. Seine Beschreibung des Zodiak läßt den Entstehungsprozeß der Tierkreis-Bilder teilweise erkennen, wie er in meinem jüngsten Buch (Jahrkreuz, S. 97) dargestellt ist. Da werden „Haupt und Brust des Löwen zum Sternbild des Krebses gerechnet“, während „der Faltenbausch des Kleides der Jungfrau die ersten Teile des Sternbildes Waage bildet“ oder „die Schenkel des Schützen schon zum Sternbild des Steinbocks“ gehören. Diese Hinweise verraten den Moment der Ausformung des Tierkreises zu Beginn der Renaissance, wobei die Tierkreis-Konstellationen, die optisch verschieden groß ausfallen, schon auf die einheitliche Größe (Zeichen) von 30° zurechtgestutzt sind (IX,1,5).
Ganz auffällig erscheint Vitruvs Text neuzeitlich, wenn er (IX,4,6) den Polarstern beschreibt, und damit deutlich unseren jetzigen Polaris meint, während zur vermeintlichen Zeit des Augustus an dieser Stelle kein Stern gesehen werden konnte.
Zu den Umläufen der Planeten äußert sich Vitruv ausführlich (IX,1) und macht für Merkur und Venus völlig falsche Angaben, während die Zahlenwerte und die Hinweise zur Rückläufigkeit für die äußeren drei Planeten fast richtig sind, wobei man bedenken muß, daß er bei Kenntnis der griechischen Astronomie, etwa eines Aratos oder Hipparch, auch für Venus und Merkur die exakten Werte hätte abschreiben können.
Die mehrfache Erwähnung des Chaldäers Berosos (IX,2,1) ist problematisch, auch wenn jener von Plinius (VII,37, laut Reber S. 306 Anm.) herausragend genannt wird. (Berosus ist um 1500 AD bei Trithemius und anderen Erzfälschern eine wichtige Bezugsperson gewesen; sein Text wurde von Nanni, Annius von Viterbo, verfaßt.)
Auch den Mondumlauf beschreibt Vitruv umständlich und mit falschen Zahlenwerten, obgleich die korrekten Werte wohl jedem Schriftsteller in der Antike wie der Renaissance geläufig waren. Was Vitruv zu dem Unsinn verleitet haben mag? Sollte sein Text archaisierend wirken, naiv, von echtem Wissen unberührt; oder ob der Mönch, der das schrieb, keine besseren Vorlagen auftreiben konnte – bleibt unergründlich. Es heißt zwar immer wieder, daß gerade in diesem Kapitel größere Textstellen völlig unverständlich seien und erst mit Hilfe anderer "antiker" Texte rekonstruiert werden könnten, aber auch das reicht als Erklärung nicht aus.
Sodann wird der Mathematiker Aristarch von Samos zweimal erwähnt (I,1,17 und IX,2,3), aber beide Male ist von seiner in der Renaissance erst durchbrechenden Erkenntnis der Umdrehung der Erde um die Sonne nicht die Rede. Das ihm dummerweise zugeschriebene Werk über die Größe und Entfernung von Erde und Sonne wird nicht erwähnt, auch eine Anspielung auf die Ansichten der Araber und die aufkommende Heliozentrik des Kopernikus unterblieb. (Topper, 2016, S. 53).
Die archaisierende Absicht tritt dagegen wieder deutlich hervor, wenn Vitruv von der (Un)sichtbarkeit des Sternes Kanopus schreibt (IX,5,4), von dem wir nur durch Kaufleute wissen, "die in die fernsten Gebiete Ägyptens, die den äußersten Grenzen der Erde zunächst liegen, gelangten", was für die Antike (wie auch die anschließende arabische Zeit) unzutreffend ist, denn Kanopus war damals in Nordafrika von Alexandria bis Tingitana gut sichtbar. Er stieg bis zu 7½° über den Horizont. Heute ist er in Kanopus (die Ruinen von Abukir unweit Alexandria) immer noch (nach Sirius) als zweithellster Fixstern sichtbar.
Zur Astrologie äußert sich Vitruv sehr sparsam (IX,6); er erwähnt sie nur als chaldäische Wissenschaft, die Wettervorhersagen treffe. Diese Zurückhaltung kann ich nur damit erklären, daß er in einer Zeit und für eine Zeit schrieb, die personenbezogene astrologische Deutungen nicht schätzte, was auf das 15. Jh. zutreffen dürfte, sofern wir in diese Zeit einen näheren Einblick haben.

Der Ingenieur

Hydraulische Maschinen entwirft Vitruv im letzten Kapitel, von Wassermühlen und Schöpfrädern bis zu Balisten für den Krieg. Seine Arbeit wäre hier mit dem Buch der Mechanik von Philon von Byzanz zu vergleichen, was ich aus Mangel an Literatur nicht vornehmen konnte. Wie gut Vitruvs Versuche in die Wende um 1500 passen, läßt sich an Dürers und Leonardos Arbeiten auf diesem Gebiet ermessen. Sie sind einander recht ähnlich.

Ein übers andere Mal beklagt Albrecht Dürer den Verlust der Kunstlehrbücher der Alten, von denen Plinius und andere gesprochen haben. Die Zerstörung lastet er auch der Kirche an (in seinem Lehrbuch der Malerei) und verurteilt sie; er nennt dazu auch Krieg, Völkerverschiebung oder Änderung von Gesetz und Glauben als Gründe. Das trifft die Renaissance genau, wogegen nirgends eine Katastrophe als Verursacher vorkommt. Vermutlich liegt sie zu lange zurück, während der Glaubenswandel ganz präsent ist.

Zur Überlieferung

Vitruv gibt selbst einen sehr fantasievollen Katalog griechischer Vorarbeiten seines Werkes an (VII Vorw. 11-14), von denen nichts übriggeblieben ist. Dem Vitruvtext können Teile eines griechischen Werkes zugrundeliegen, das aber von seinem Übersetzer mangels Sprachkenntnissen nicht ausgeschöpft wurde. Wenn es byzantinisch ist, wäre das kein Sonderfall für die Wiedergewinnung antiken Wissens in der italienischen Renaissance.
Zu Vitruvs Zeit sieht es dagegen dunkel aus: "Über die Verbreitung des vitruvianischen Textes in der Antike wissen wir nichts." (Kruft 2)
Oft wird behauptet, Isidor von Sevilla (6. Jh.) habe Vitruv zitiert; das ist nicht aufrechtzuerhalten. Es stimmt weder für ein Direktzitat noch für sinngemäße Verwendung.
Erst unter den Karolingern soll Vitruv wieder weitergegeben worden sein. Wie wir zu diesen Texten und Daten zu stehen haben, wurde uns durch Illig klargemacht: Es sind alles spätere Fälschungen.
Bocaccio und Petrarca werden als Kenner des Vitruvtextes bezeichnet, was aber durch die Verschiebung der italienischen Jahreszahlen bedingt sein wird, denn sie sind Zeitgenossen von Dante um 1500 (siehe meine Ausführungen dort), konnten also auch die Erstausgaben schon kennen.
Ende des 15. Jh. soll es Übersetzungen von Vitruvs Werk ins Volgare gegeben haben, bekannt geworden ist nur eine Ausgabe: die von Francesco di Giorgio aus den 1470er Jahren. Die erste gedruckte lateinische Ausgabe erschien "wahrscheinlich" 1486 in Rom, wobei eine Schrift des Frontinus über die Wasserleitungen der Stadt Rom angehängt ist. Nachdrucke davon gibt es in Venedig 1495 und Florenz 1496. Frontinus (um 100 u.Ztr.) wird auch als Verfasser der Strategmata (Kriegswesen) angesehen, ein Manuskript, das im 15. Jh. 'wieder'-entdeckt wurde und wahrscheinlich ebenso Humanistenarbeit ist.
Albertis Architektur-Tratat wurde 1485 veröffentlicht; es folgt streckenweise dem Muster des Vitruv-Textes. Daß diese beiden Werke so häufig nebeneinander genannt werden, ist verständlich; das vitruvsche erschien etwa 1486.

Verdacht

Wenn auf diese Weise auch deutlich geworden ist, daß Vitruv in der italienischen Renaissance geschrieben sein dürfte, so fehlte doch noch jeglicher Hinweis auf den Autor. Hier hat Hermann Detering einen deutlichen Fingerzeig gegeben. In meiner Besprechung seines Buches "Falsche Zeugen" (2013) schrieb ich:
"Ein Geheimnis hat Detering aufgedeckt, indem er versuchsweise anzeigt, wer vermutlich Cäsars Bellum Gallicum geschrieben hat, dazu wahrscheinlich auch die zehn Bücher zur Architektur von Vitruv (S. 151): ein gewisser Fra Giocondo aus Verona, laut Vasari dort 1435 oder bald danach geboren, als Architekt Jean Joyeux um 1500 in Paris tätig. Fra Giocondo sei Ordensbruder gewesen; welcher Orden ist unbekannt. Er verfaßte auch den 10. Band der Briefe von Plinius dem Jüngeren an Kaiser Trajan, der sich von den schon vorher verfaßten neun Briefbänden stark abhebt als Zugabe. Nun müssen wir, nachdem uns durch Detering der Fingerzeig gegeben wurde, den „lustigen Bruder“ (Fra Giocondo) überprüfen, denn nur er sah das angebliche Original der Briefe (S. 80)."

Seinerzeit konnte ich dem Fingerzeig Fra Giocondo nicht weiter nachgehen, nun schaue ich in Wikipedia und anderen Lexika nach:

Giovanni Giocondo

Fra Giovanni Giocondo (auch Giovanni da Verona; geboren 1433 in Verona; gest. 1515 in Rom) war ein italienischer Dominikaner, später Franziskaner, ein Humanist und Altertumsforscher sowie Architekt und Architekturtheoretiker.

Fra Giocondo scheint die erste Hälfte seines Lebens hauptsächlich den humanistischen Studien gewidmet zu haben, die er mit dem Studium der antiken Architektur verband. In dieser Zeit unterrichtete er Julius Caesar Scaliger ... in der griechischen und lateinischen Sprache. Obwohl er Mitglied eines Ordens war, verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens außerhalb des Klosters. In Rom und anderen Städten Italiens sammelte Fra Giocondo mehr als 2000 Inschriften, die er Lorenzo de’ Medici widmete; eine Abschrift befindet sich in der Biblioteca Magliabecchiana zu Florenz. Während seines Aufenthalts in Frankreich fand er ein Manuskript von Cäsars Gallischem Krieg, das mit seinem Kommentar versehen bei Aldus in Venedig gedruckt wurde. Andere Autoren ließ er zum ersten Mal drucken, so auch Columellas Schrift De re rustica.
Zwischen 1506 und 1508 schuf Giocondo den Deutschen Hof in Venedig, der von Titian und Giorgione ausgemalt wurde.
1511 gab Giocondo seinen eigenen Traktat Über die Architektur in zehn Bänden heraus, der als Verbesserung oder Erläuterung von Vitruvs gleichnamigem Buch anzusehen wäre.

In Frankreich entdeckte Giocondo ein Manuskript von Plinius dem Jüngeren, das dessen Korrespondenz mit Trajan enthält. Giocondo gab es in Paris heraus, wo es bis heute als echt angesehen wird. Die italienische Fassung erschien in Bologna (1498). Plinius' Briefe an Trajan haben nur Wert für die christliche Gedankenwelt (siehe Detering wie zit.).

Giocondo fand auch Cäsars Kommentare zum Gallischen Krieg und gab sie heraus.
Dazu hatte sich Baldauf geäußert, wenn er auch nicht auf Giocondo stieß (da ja immer alle Funde dem Bracciolini zugeschrieben wurden).
Columellas gerade erwähntes "Gartenbuch" ist zumindest in astronomischer Hinsicht völlig unbrauchbar und keineswegs antik.
Und schließlich: Vitruv kennt noch nicht die sich damals herausbildende Chronologie. Natürlich: Scaliger (sen.) war Giocondos Schüler. Zwischen die griechische Blütezeit (sagen wir Platon) und Homer schiebt er tausend Jahre (heute nimmt man drei Jahrhunderte als ausreichend an).

Da ich nun vermute, daß die beiden Bücher gleichen Namens, Zehn Bände über die Architektur, beide herausgegeben von Giocondo, auch tatsächlich nur eins sind, nämlich erst 1486 noch recht stümperhaft und dann 1511 mit allen inzwischen erworbenen Fähigkeiten verbessert und reichlich illustriert, suche ich nun im Internet nach dem originalen Werk des Giocondo, um es mit der ursprünglichen Fassung (des Vitruv) vergleichen zu können. Ich finde keinen Anhaltspunkt. Außer etwa diesem:

Die digitale Kunstpforte – hier Verfasser Zindel 2017 –
beschreibt zuerst den vermeintlichen antiken Architekten Vitruv und fügt dann an:

"Am Ende seines Lebens bringt Fra Giovanni Giocondo (um 1435 – 1515) alle seine Kompetenzen auf, um den schwer zugänglichen und mangelhaften Text von Vitruv verständlich darzulegen. Fra Giocondo ist ein bekannter Ingenieur, kennt die technischen und wissenschaftlichen Schriften der Alten, ist kompetenter Philologe und ausgezeichneter Kenner der Ruinen und deren Inschriften. Er versucht, De architectura libri decem von Vitruv verständlich für Wissenschaftler wie auch für Praktiker zu machen, daher fügt er am Schluss auch ein wichtiges Wörterbuch an. Im Vergleich zu den drei vorhergehenden Ausgaben von Vitruv (um 1486, 1496 und 1497) bietet Fra Giocondo einen stark verbesserten Text mit 136 Holzstichen, da ja die originalen Abbildungen verloren sind. Seine Interpretationen des dorischen Stiles, die Vitruv nicht bis ins Detail beschrieben hatte und selten in den antiken Bauwerken vorkommen, wurden von fast allen seinen Nachfolgern wie Diego de Sagredo, Serlio, Philandrier, Vignola oder Palladio übernommen."

Es gäbe folgende Lösung: Fra Giocondo muß nicht der Erfinder oder Fälscher des Vitruv gewesen sein, er kann auch die 1511 vorliegenden Texte (z.B. von Giovanni Sulpicio aus Veroli betreut, Venedig 1495 und Florenz 1496; siehe Kruft S. 72 f) weiterverarbeitet haben.

Literatur

Detering, Hermann (2011): Falsche Zeugen (Aschaffenburg)
Illig, Heribert (1996): Das erfundene Mittelalter (Düsseldorf)
Krause, Katharina (1990): Zeichnungen französischer Architekten um 1700 (Teil 2: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53, S. 66-72
Kruft, Hanno-Walter (2013): Geschichte der Architekturtheorie, Von der Antike bis zur Gegenwart, 6. Aufl. online https://doi.org/10.17104/9783406703522-69 (Beck, München)
Reber, Franz (1908): Zehn Bücher über Architektur (Berlin; Nachdruck Matrix 2004)
Rupp, Erwin (1964): Bautechnik im Altertum (München)
Topper, Uwe (2916): Das Jahrkreuz (Tübingen)
(2013): Besprechung von Deterings Buch "Falsche Zeugen" (hier im Lesesaal: ../dtpages/Detering.html)
Zindel (2017) in: Die digitale Kunstpforte (internet) Stichwort Vitruv – Giocondo Fra

Uwe Topper, Berlin, Dez. 2020

Vitruv LeonardoProportionsschema der menschlichen Gestalt nach Vitruv – Skizze von Leonardo da Vinci, 1485/90, Venedig, Galleria dell’ Accademia. Autorenangabe des Fotografen: Luc Viatour 2007/ https://Lucnix.be

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