Wenn man zeigen will, wie aus der antiken Kultur die moderne Kunst und Wissenschaft wiedergeboren wurden – wenn man also die Renaissance erklären will – dann muß man das Zeitproblem lösen: Wie konnte es geschehen, daß eine Kunst – und das heißt natürlich auch das Handwerk, das dazu nötig war – über ein Jahrtausend oder länger geschlafen hat und dann inhaltlich wie äußerlich in fast gleicher Weise wieder auftreten konnte. Wenn die Fähigkeiten zur Herstellung einer Marmorfigur eines Menschen mit naturgleichen Proportionen nicht weitergegeben wird in Schulen oder vom Vater auf den Sohn, dann ist es unmöglich, dergleichen neu zu erfinden in einer Weise, daß das neue Produkt dem vergangenen aufs Haar gleicht, so sehr gleicht, daß man sich oft nicht sicher sein kann, ob dieser Gegenstand aus der Antike oder der Renaissance stammt.
Und das gilt für alle Zeugnisse der antiken Kultur, von den Münzen und Medaillen über die Wandmalereien und Mosaike, von Bronzeguß und Vasenmalerei bis zum Epos und der philosophischen Abhandlung. Sie alle finden nach mehr als einem Jahrtausend eine unerwartete Neubelebung, eine unerklärliche Wiedergeburt.
Wenn Petrarca und seine Freunde noch Latein hätten lesen können, wäre das weniger verwunderlich, denn es ist doch erstaunlich, wenn wir erfahren, daß Petrarca mühsam die ersten Versuche macht, gerade freigelegte lateinische Inschriften zu entziffern und seinen Begleitern zu übersetzen. Wenn die römischen Bäder noch beheizt worden wären, gäbe es Anknüpfungspunkte. Aber das war nicht der Fall, wie die ersten humanistischen Geschichtsschreiber in Italien, etwa Lorenzo Ghiberti und Leonardo Bruni, Alberti und Vasari, (siehe Siepe 1998) bezeugen: Rom war untergegangen, es lag unter Bergen von Schutt begraben, niemand wußte so recht, wie es ausgesehen haben mochte und wieviel Zeit vergangen war. Auf dem Aventin weideten Ziegen. Papst Nikolaus („V“) begann, die Stadt auszugraben und wieder bewohnbar zu machen. Er gründete die Vatikanische Bibliothek und förderte die Humanisten. Die wissenschaftlichen Schriften der Griechen in Sachen Medizin, Astronomie oder Mathematik kannte man nur über arabische Zwischenübersetzungen, sie mußten aus Resten zusammengesetzt oder gar neu geschrieben werden. Die echte Portraitmalerei war in Alexandria „vor tausend Jahren“ gestorben und wurde durch die ersten Maler der Renaissance, durch Giotto und Botticelli, schrittweise neu erlernt. Dennoch: sie wurde neu erlernt und wurde schöner denn je.
Wir haben einerseits die Behauptung einer riesigen Zeitlücke nach der Zerstörung der gesamten Epoche der Klassik, andererseits das wunderbare Wiederaufleben in fast gleichen Formen und Inhalten nach unüberbrückter Zeit. Beides wäre zu erklären, wenn der Zeitabstand nicht gar so groß wäre, wenn also einerseits zwischen der Antike und der Renaissance nur ein Menschenleben vergangen wäre, so daß eine Weitergabe des Könnens und Wissens noch möglich gewesen wäre, und wenn andererseits etwas zwischen diesen beiden Phasen der Kulturgeschichte geschehen wäre, das einen so strengen Einschnitt verständlich macht; wenn also statt einer tausendjährigen Schlafzeit ein einmaliger Vernichtungsvorgang stattgefunden hätte, der den Bruch erklären könnte, ohne daß damit eine größere Zeitspanne gefordert wäre.
Am Beispiel der etruskischen Kunst und Religion soll nun deutlich gemacht werden, daß eine tausendjährige Lücke zwischen Antike und Neuzeit unmöglich angenommen werden kann.
Ein bleibender Eindruck als Schüler war für mich die große Etrusker-Ausstellung 1956 in Köln, die uns erstmals diese großartige Kultur vor Augen führte. Da war auch viel von der Granulationstechnik der etruskischen Goldschmiede die Rede, einer geheimnisvollen Technik der Schmuckherstellung, die gerade in jenen Tagen erstmals wieder nachgeahmt werden konnte, nachdem das Geheimnis zwei Jahrtausende verschollen gewesen war. Die „Modernität“ der etruskischen Kunsterzeugnisse und ihrer Geisteshaltung überraschte alle Besucher, so auch mich.
Soweit ich in der deutschen Literatur nachlesen konnte, war Sibylle von Cles-Reden (1948) die erste, der dieser Sprung über den Zeitstrahl aufgefallen war. Als glühende Verehrerin der tyrrhenischen Kultur und der heutigen Toskana schrieb sie ihr Buch über „Das versunkene Volk“ und schaffte es, das Weiterleben der fernen Antike lebendig werden zu lassen. In ihren Sätzen gibt sie immer wieder der Verwunderung Ausdruck, daß die totgeglaubte, erst durch neue archäologische Arbeiten wiederentdeckte Kultur der Tyrrhenier „unterirdisch“ weitergelebt haben mußte, denn gerade so spezifische Äußerungen wie religiöse Mischwesen oder ein spezielles ästhetisches Empfinden für den menschlichen Körper können nicht Jahrtausende verschollen sein und dann wieder auftauchen.
Bei Besprechung der kapitolinischen Wölfin, einer der wenigen großen Bronzeskulpturen, die uns aus der Zeit um 500 v.Chr. erhalten blieben, sagt die Autorin: „Man hielt sie sogar eine Zeit lang für eine mittelalterliche Bronze, was nicht so sehr wunder nimmt, wenn man die oft verblüffende Verwandtschaft der romanischen und gotischen Kunst, besonders in Mittel- und Norditalien, mit den frühen Werken etruskischer Bildnerei bedenkt.“ (S. 106) Heute nähert man sich der Erkenntnis, daß die Wölfin in der frühen Renaissance geschaffen wurde. Ähnlich ergeht es der Autorin bei der anderen Bronzestatue aus der Zeit um 500 v.Chr., der Chimäre: „Hier durchbricht der Wille des Künstlers zum aufs Höchste gesteigerten dramatischen Ausdruck die Schranken der archaischen Stilgebung schon endgültig. Das noch Verhaltene und Gebändigte fehlt diesem herrlichen und schrecklichen Geschöpf einer vorzeitigen Sagenwelt.“ (ebendort) Oder anders ausgedrückt: stilmäßig paßt dieses außergewöhnliche Kunstwerk nicht in die Zeit, der es zugeteilt wird. Die Figur wurde übrigens 1554 bei Arezzo gefunden und durch den Florentiner Benvenuto Cellini restauriert; er setzte dem Tier (um 1562) zwei Beine an. Der Schlangenschwanz kam erst 1785 dazu, rekonstruiert nach antiken Münzen, deren Echtheit allerdings in Frage steht.
Etruskisch dürften die beiden Figuren wohl sein, und Cinquecento vermutlich auch; das miteinander zu vereinbaren fällt nur dem schwer, der die Chronologie für unumstößlich hält.
Lesen wir weiter (S. 117) :
„Die Verwandtschaft zwischen der tyrrhenischen Bronzeplastik und jener der toskanischen Frührenaissance drängt sich besonders angesichts eines im Museum von Florenz befindlichen Jünglingskopfes auf. Dieses etruskische Werk ... erinnert in seiner strengen Anmut und Sammlung stark an die herbe Grazie eines Donatello oder Desiderio da Settignano.“ Sicher könnten Funde der etruskischen Altertümer die Künstler der Renaissance beflügelt haben. „Von Michelangelo gibt es eine Zeichnung, die den etruskischen Todesgott mit dem Wolfshelm darstellt und damit beweist, daß der große Meister tyrrhenische Fresken nicht nur kannte, sondern sich auch künstlerisch mit ihnen auseinandersetzte. – Weit stärker aber als die Anschauung antiker Kunstwerke mag sich in der toskanischen Renaissance ein schöpferisches Bluterbe, eine im Unterbewußtsein fortlebende geistige Disposition ausgewirkt haben, die den aus dem einstigen Etrurien stammenden Menschen von ihrem mit alter Kultur gesättigten Mutterboden mitgegeben wurde.“ Gewiß doch, auch die geistige Einsicht einschließlich der handwerklichen Fähigkeit dazu wurde weitergegeben, aber über fast zwei Jahrtausende und nur im Blut? Unvorstellbar. Hier muß direkter Kontakt vorgelegen haben.
Es könnte ja auch Überlebende vor Ort gegeben haben, wie die Autorin durch Gegenüberstellung von Portraitaufnahmen heutiger Bewohner der Toskana neben Wandmalereien und Tonköpfe der Etrusker glaubwürdig macht; die Ähnlichkeit ist staunenswert. (Abbildungen 2 und 3: Kopf einer heutigen Frau aus Tarquinia und Fresko aus dem etruskischen Tarquinia, Abb. 58 und 57 aus Cles-Reden)
Eng an Sybille Cles-Reden schließt Hans Mühlestein mit seinem Buch „Die verhüllten Götter“ 1957 an und setzt die Vergleiche fort, wobei er ebenfalls das oder die Jahrtausende sprunghaft überbrückt. Er zeichnet eine durchgehende Linie und „beweist“ an Hand lateinischer Schriftsteller, daß die Etrusker nicht vollständig ausgerottet wurden, denn daß ihre Kultur und Geistesart weiterlebte, ist ihm nur allzu offensichtlich. Mühlestein nennt den Maler Luca Signorelli aus Cortona den „genialen Etrusker“ und bespricht sein „Weltgericht“ (1499) im Dom der ehemaligen Bundeshauptstadt der Etrusker, Orvieto, als wäre es in Erinnerung an den Untergang seines Volkes unter die Herrschaft Roms gestaltet, wobei nur eine Zwischenstufe, die der bogomilischen Ketzer, als Bindeglied vorkommt (S. 226). Die Renaissance-Maler mußten ja die Perspektive des Raumes und die Proportionen des nackten Körpers erst wieder neu gewinnen, sie taten es bewußt nach etruskischem Vorbild. Die „lombardischen“ Kirchen von Tuscania scheinen ihm „von unheimlicher spätetruskischer Dämonie beseelt“, die gewaltige Bronzeplastik von Perugia wiederholt die tiefverwandte, echt etruskische Wucht, „dabei sind wir bereits mitten in der Kunstblüte der Reinaissance...“ – das ganze Buch spricht vom Fortleben des etruskischen Geistes in Politik und Handwerk und Religion. Mühlestein erkennt, daß die uralte Muttergöttin der Etrusker, „Mater Matuta“, mit dem Neugeborenen im Schoß, zum Urbild aller toskanischen Madonnen wurde, und daß ohne ihre Aufnahme in die christliche Religion diese niemals zur Volksreligion geworden wäre (S. 165). Sogar die päpstliche Tiara hat ein etruskisches Vorbild: den tutulus.
Der fast bruchlose Übergang von den religiösen Vorstellungen der Etrusker zum christlichen Mittelalter ist auch dem populären Schriftsteller Werner Keller aufgefallen, der mehrfach darauf anspielt und am Schluß seines Etruskerbuches „Denn sie entzündeten das Licht“, 1975, mehrere Seiten lang darüber spricht (S. 412 ff). Bis hin zu den Darstellungen des Totengottes, der Hölle als Unterwelt, zu den Dämonen und Monstern, kann er den Übergang von der etruskischen in die katholische Bilderwelt ablesen. Das Christentum besitzt in seinen Büchern und jüdischen Wurzeln keine derartigen Vorbilder, sagt er. Die schaurigen Gestalten der romanischen Basiliken müssen von Etruskern selber stammen, vielleicht sind sie aus dem Orient (Zweistromland) über Griechenland eingeschleust, aber nicht über die Bibel oder Gnosis sondern durch die Etrusker.
Anders die Renaissance, die mit neuen klaren Linien auf Hellas und Rom gegründet dem „neuen Gotte“ dient.
Kurz vorher (S. 411) bespricht Keller die unglaubwürdigen Wundergeschichten, die Augustin berichtet, die Krankenheilung und Totenerweckung durch Reliquien, und ruft aus: „Die Weichen waren gestellt, die in die Verdummung, die ins Dunkel des Mittelalters führten. Die geistige Entwicklung war vorgezeichnet, die den christlich gewordenen Bewohnern Europas beschieden sein sollte – für mehr als eineinhalb Jahrtausende!“ Der Zeitabstand macht auch ihm zu schaffen, aber sonst sieht er den fast nahtlosen Übergang: (S. 4l2): Da steht der etruskische Lukomone, Priester und Herrscher zugleich, „in der einen Hand das zweischneidige Schwert weltlicher und geistiger Autorität schwingend, in der anderen die Bücher des Tages haltend. Und er rief seinen von ehrfürchtiger Scheu ergriffenen Untertanen zu: »Glaubet und gehorchet!« Freiheit des Gedankens und des Handelns war mit der Anmaßung der Unfehlbarkeit der regierenden Gewalt in den Tagen des Tarchon oder des Königs Porsenna ebenso unvereinbar wie in denen Gregors XVI.“
So wird es gewesen sein: Die Etrusker hatten nicht aufgegeben, in Papst Gregor lebten sie weiter. Die katholische Kirche hatte sich in die Tempel und Gräber der Etrusker gesetzt und deren Welt wieder belebt. Wie lange mag der Zeitraum zwischen beiden Kulturen gewesen sein? Möglicherweise nur einige Jahrzehnte, wie aus den Ruinen ablesbar; über längere Zeit wäre nicht vorstellbar, daß eine bäuerliche und städtische Bevölkerung dergleichen mitgemacht hätte.
Der Krummstab des etruskischen Priesters, der lituus, wird zum Bischofsstab, die Dome stehen unmittelbar auf etruskischen Heiligtümern, der Wandputz könnte noch etruskische Fresken bergen, was den Archäologen noch gar nicht bewußt wurde, sagt Keller. „Und doch stößt, wer aufmerksam Altetrurien durchwandert, überall auf Orte, die unmißverständlich Zeugnis ablegen von den mannigfachen Zusammenhängen archaisch-etruskischer und mittelalterlichchristlicher Zeit.“ (S. 413) Selbst Charuns silberner Hammer liegt noch im Vatikan bereit, denn damit muß jedem verstorbenen Papst dreimal an die Schläfe geschlagen werden, nach etruskischem Ritus. (S. 415)
Woher sollten die Engel sonst stammen wenn nicht aus der etruskischen Totenwelt, fragt Keller. Jedenfalls sind die geflügelten Wesen in den bemalten Gräbern von Tarquinia die allernächsten Verwandten der Engel in den katholischen Kirchen der Nachbarschaft.
Der päpstliche Titel Pontifex maximus (oberster Brückenbauer) als höchster Priester geht auf die Etrusker zurück, er gehörte zur Berufsgruppe der Landvermesser. Der legendäre Numa Pompilius trug ihn schon und verband damit die Herrschaft über den Kalender. Die Übernahme dieses Titels durch Päpste wie Leon und Gregor scheint mir nicht folkloristische Weiterführung alter Bräuche, sondern war eher eine juristische Realität, und das kann ich ebenfalls nur in direkter Nachfolge, nicht als romantisches Wiederaufgreifen einer sagenhaften Vergangenheit verstehen. Der dazugehörige Vatikanstaat nahm übrigens während seiner größten Ausdehnung etwa den Raum des etruskischen Kulturgebietes (von Rom bis Bologna) ein.
Dora Jane Hamblin erzählt in ihrem schönen Etruskerbuch (1978) auch von den zahlreichen Fälschungen, die gerade von den so gefragten etruskischen Kunstwerken hergestellt wurden. „Trotz neuartiger Verfahren und der Detektivarbeit von Wissenschaftlern sind noch in den meisten Museen der Welt etruskische Nachahmungen und Fälschungen ausgestellt.“ (S. 140) Auch wenn italienische Fachleute jahrzehntelang davor gewarnt hatten, zeigten die Amerikaner doch offensichtlich nachgeahmte Skulpturen „der Etrusker“ als echt und ließen sich erst durch das Geständnis eines Fälschers dazu bewegen, genauere Untersuchungen anzustellen. Die sind relativ einfach, denn schon technische Fehler beim Brennen der großen Figuren oder die Verwendung von Mangan zur Herstellung der schwarzen Malerei verraten den modernen Fälscher. Um nun die Thermoluminiszenz-Datierungsmethode, mit der die Echtheit bestätigt worden war, zu retten, wird sogar von Experten angenommen, daß ein Fälscher über eine „ungenehmigte Atomquelle“ (S. 140) verfügt, mit der er seine Etruskerwerke bestrahlt und ihnen damit das nötige Alter verleiht. Je absurder ein Rettungsversuch, desto dümmlicher muß die Metho de sein.
(Abbildung 4: Wallfahrtskirche in Bominaco / Abruzzen)
Abgelegen von den Hauptrouten der Touristen in den Abruzzen entdeckten wir in Bominaco eine Walfahrtskirche, deren bunte Fresken uns den Eindruck verstärkten, daß nur eine direkte Weitergabe von Religion und Technik vorliegen könne. Neben den Darstellungen aus der heiligen Geschichte, die als gut katholisch gelten, stehen Höllenbilder von so lebendiger Wucht, daß sie aus einer anderen Glaubenswelt hereingesprungen scheinen, eher verwandt mit Bildern von Hieronymus Bosch oder – ja, eben – mit den toskanischen Grabgemälden. Die etruskischen Unterweltsmonster sind ohne Zögern übernommen, der Maler muß sie noch so gelernt haben, als er die christliche Kirche ausschmückte. Das Gebäude selbst, vor allem die Chorschranke mit zwei wilden Greifen, könnte noch vorchristlich sein, die Taufe hat hier nicht viel verändert, sogar der alte Eingang vom heutigen Altar her ist noch da. (Abb. 5: Fresko in Bominaco)
In den Museen der Toskana, die reichlich mit etruskischen Kunstwerken bestückt sind, verdichtet sich der Gedanke. Auf den marmornen Graburnen mit Reliefs sind Szenen aus der etruskischen Mythologie dargestellt, die nur teilweise griechischer Herkunft ist. Einige Motive und Darstellungsweisen sehen wir heute als rein etruskisch an.
Viele dieser Wesen sind horrisch wie Triton und Sirene, Greif und Drachen. Beeindruckt hat mich die Opferung der Iphigenie durch ihren Vater auf einem Altar, die häufig dargestellt wird. Ein Rehkitz der Artemis steht als Ersatzopfer bereit. Wer da nicht sofort an Abraham und seinen Sohn und den Widder im Busch neben dem Altar denkt, der hat nie christliche Kunst gesehen. Der einzige wirklich auffällige Unterschied ist die heidnische Göttin anstelle des männlichen Gottes. Ob das Opfer ein Knabe oder ein Mädchen ist, kann man meist nicht erkennen.
Diesem kurzen Eindruck meiner letzten Toskana-Reisen möchte ich noch einige Notizen anfügen: Erstaunt waren wir über den Erhaltungszustand einiger großer Reliefs an etruskischen Gräbstätten im Tuffsteingebiet von Pitigliano. Da gibt es ein „Grab der Sirene“, das 1843 von dem Engländer S. J. Ainsley entdeckt und gezeichnet worden war.
(Abb. 6 u. 7: Foto der Tomba della Sirena und Zeichnung von Ainsley)
Diese Reliefs an freistehenden Felsen sind heute sehr stark verwittert, ohne die Zeichnungen könnten wir nicht viel erkennen. Wenn sie aber statt rund hundertfünfzig Jahre schon zweitausenddreihundert Jahre überdauert hätten – das Grab soll aus dem 3. Jh. v.Chr. stammen – dann wäre der weiche Tuff vollständig glatt verwaschen, denke ich.
Vetulonia war einst ein wichtiger Ort der Etrusker, wie Plinius, Ptolemäus und andere beschrieben, und doch wußte man später nicht mehr, wo er gelegen hatte. Als man in dem Ort Colonna di Buriano zwei Münzen mit den Buchstaben VATL fand, nannte man 1888 diesen Ort nach dem antiken Vetulonia. An etruskischen Funden mangelt es hier nicht, Kammergräber liegen überall, auch an der Straße nach Roselle, das ebenfalls etruskisch und römisch war mit einer eindrucksvollen Stadtmauer von mehr als 3 km Länge, fünf bis sechs Meter hoch. Das große Amphitheater wurde von mittelalterlichen Autoren als noch intakt beschrieben. Die Stadt war bis ins 17. Jahrhundert bewohnt gewesen, stellte der Jesuit Leonardo Ximenes bei der Ausgrabung 1774 fest. Die überragende Wasserbautechnik und Kanalisation der Etrusker hat an vielen Orten noch in der Neuzeit funktioniert.
Wieder haben wir das Fortleben der Etruskerwelt bis zu einem relativ nahen Zeitpunkt und dennoch völlige Unkenntnis der Bewohner, ihrer Schrift oder Sprache und ihrer Religion. Denn außer der runenartigen Buchstaben, die wir lesen können (wenn wir auch nicht wissen, wie gut wir sie lesen), und den Notizen einiger Lateiner über die „etruskische Disziplin“ ist uns fast der gesamte geistige Hintergrund dieses Volkes verloren. Seine Sprache ist heute kaum verständlich, obgleich sich ungezählte Linguisten damit beschäftigt haben. Und wie die gigantischen Mauern mit den exakt passenden gewaltigen Steinblöcken in Hethiter- oder Inka-Bauweise errichtet wurden, können wir uns nicht einmal ausdenken.
(Abb. 8: Hafenmauer von Ansedonia)
Hier ragt eine archaische Zivilisation in unsere eigene Zeit hinein, und doch fehlt der Anschluß. Wurde sie erst in der Neuzeit ausgelöscht?
Literatur:
Cles-Reden, Sybille v. (1948): Das versunkene Volk. Welt und Land der Etrusker (Innsbruck–Wien; erweitert 1956 Frankfurt/M)
Hamblin, Dora Jane (1978): Die Etrusker (Time-Life Bücher, New York u. Nederland)
Keller, Werner (1975): Denn sie entzündeten das Licht. Geschichte der Etrusker (Locarno)
Mühlestein, Hans (1957): Die verhüllten Götter (München)
Siepe Franz, und Siepe, Ursula (1998): „Wußte Ghiberti von der Phantomzeit?“ in Zeitensprünge 1998, S. 305-319 (Gräfelfing)
Uwe Topper, Jan. 2014
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