Die Weissagung des hl. Malachias von Irland
Der Anlaß
Päpste sterben nicht so häufig. Jedesmal, wenn einer das Zeitliche segnet, kommen Spekulationen über den Nachfolger auf. Diesmal ist es besonders spannend, denn daß ein Papst in Rente geht, hatten wir in historisch beglaubigter Zeit noch nicht. Und noch aus einem anderen Grunde sprühen die Voraussagen wie Feuerwerk. Ein Nordlicht wird der nächste nicht mehr sein, aber glücklich wird er auch nicht werden: In p(er)secutione . extrema S(antae). R(omanae). E(cclesiae). sedebit ... („in der äußersten Verfolgung der Kirche wird er thronen“) lautet die Devise, die Abergläubische für ihn bereithalten. Und er wird der letzte sein, wenn man die Prophezeiung ernstnimmt. Die Liste der vorausgesagten Päpste enthält nämlich nur 112 Devisen, der manchmal als 113. eingestufte Satzteil ist keine Devise, denn er bringt einen Namen (Petrus Romanus), der nichts anderes bedeutet als „Papst“. Gewiß, die Meinungen sind da etwas geteilt, aber es ist schöner anzunehmen, daß mit 112 Devisen die Liste des hl. Malachias von Irland erfüllt ist, dann ist Ruh. Und 112 Suren hatte auch der Koran (bevor die beiden Gebete an den Schluß angehängt wurden). 112 ist eine ‚heilige‘ Zahl (achtmal 14).
Wer nicht im Bilde ist, dem sei die Vorgeschichte erklärt. Die Prophezeiung des St. Malachias wird nämlich seit vierhundert Jahren immer dann wieder zur Sprache gebracht, wenn ein Papst ablebt und ein neuer drankommt.
Wo fange ich an mit der süßen Entstehungsgeschichte?
Beginnen wir mit dem Titelhelden. Malachias wäre Primat von Irland, Erzbischof von Armagh im 12. Jahrhundert gewesen, später zog er sich aus Bescheidenheit nach Down zurück. Die geheimnisvolle Weissagung habe er vermutlich 1139 auf seiner Reise nach Rom geschrieben. Malachias gehört zu den seltenen begnadeten Personen, die ihren Todestag lange im Voraus wußten (Topper, Wiedergeburt 1988; 2° 2008, S. 382). Wie von ihm selbst vorhergesehen starb er am 2. November 1148 in den Armen seines Freundes Bernhard von Clairveaux in dessen Kloster. Auch sonst muß er ein heiligmäßiges Leben geführt haben, denn seine Heiligsprechung erfolgte schon 1190 durch Clemens III, nachdem Bernhard von Clairveaux (der Kreuzzugsprediger) dessen Lebensbeschreibung (1149) verfaßt hatte, in der er aber seltsamerweise kein Wort über die Weissagung des Heiligen verlauten läßt. Der Gedenktag für St. Malachias liegt einen Tag später, am 3. November.
Für uns Heutige ist das (erfundene) Leben des Malachias, dessen Namensgeber ein berühmterer Prophet des Alten Testamentes war, weniger wichtig als seine Weissagung, die immer noch zitiert wird, auch von Atheisten. Die Liste der von ihm vorausgesagten Päpste ist lang und geradezu verblüffend treffend, und das regt zumindest zum Nachdenken an. Hat der Mann wirklich einen Schimmer von der Zukunft gehabt oder hat die Kirche selbsterfüllende Fakten geschaffen, indem sie die Liste bei der Papstwahl jedesmal zu Rate zog? Oder ist das Ganze ein lustiger Betrug, wie es ja eine ganze Reihe in diesen Gefilden gibt?
Die Liste
Jedem zukünftigen Papst hat der Seher eine Devise in zwei Begriffen zugeteilt, an dieser soll er kenntlich sein, natürlich erst nach seiner Wahl. So eine Devise kann sich auf die Person des Papstes beziehen, seinen Namen, sein Wappen oder seine Herkunft, auch auf seine Taten oder seinen Charakter. In vielen Fällen ist der Träger nachträglich mit Erstaunen für alle erkennbar.
Der erste freigewählte Papst, gewählt von einer Handvoll Kardinälen und den Bürgern Roms, wie es heißt, war Coelestinus II, der Himmlische. Er ist die Nummer 1 auf der Liste und begann sein Pontifikat 1143, also rund vier Jahre nachdem Malachias die Liste aufgestellt hatte; er regierte „unabhängig vom Kaiser des Reiches“ nicht ganz ein halbes Jahr. Seine Devise lautete: „ex castro Tiberis“ (aus der Festung am Tiber), was passend ist, denn er stammte aus Cittá di Castello am Tiber.
Sein Nachfolger hatte die Devise „Inimicus expulsus“, was etwa bedeutet: Vertreiber der Feinde. Als Papst nannte er sich Lucius II, sein Familienname lautete: Caccianemici, italienisch für „Vertreiber der Feinde“.
Der dritte wurde „ex magnitude montis“ (von der Großheit des Berges) tituliert; es war Eugen III (1145-50), geboren in Castillo de Grammont („großer Berg“), also wie der erste durch seinen Geburtsort gekennzeichnet.
In dieser Weise wird die Reihe der Päpste aufgerollt, fast immer finden sich deutliche Zusammenhänge zwischen Devise und Person.
Die außerordentliche Berühmtheit, die der Weissagung in den letzten Jahrzehnten zugemessen wurde, liegt daran, daß die Liste sich dem Ende zuneigt. Die Devisen sind erschöpft, der kommende Papst wird der letzte sein. An die oben schon zitierte Devise des letzten schließt sich ein langer Zusatz an: „er weidet seine Schafe inmitten vieler Verfolgungen, und wenn sie vorüber sind, wird die Stadt der sieben Hügel (Rom) zerstört werden und der Richter, vor dem man zittert, wird sein Volk richten. Ende (des Textes)“.
Wer hier gerichtet wird, war strittig: die Menschheit oder nur das christliche („sein“) Volk, also die Kirche? Man neigt heute dazu, daß nicht das Jüngste Gericht gemeint sein kann, denn dessen Zeitpunkt kann laut hl. Schrift niemand voraussagen, nicht einmal der Sohn Gottes (siehe eine lange Liste von entsprechenden Aussagen im NT, sowohl in den Synoptikern und der Apostelgeschichte als auch in den Briefen. Das Gericht über die Hure in der Offenbarung des Johannes ist nicht das Jüngste Gericht!) Eine Verurteilung der Kirche durch den höchsten aller Richter ist gewiß keine erbauliche Deutung, aber immerhin dogmentreu.
Hinsichtlich der Zählung war man sich nicht sicher, es könnte ja durch die Gegenpäpste eine Verschiebung stattgefunden haben. Diese ist aber nach der Veröffentlichung 1590 nicht mehr möglich gewesen, da nun alle vergangenen Päpste ihre Zuweisungen erhalten hatten; der letzte Gegenpapst war 1449 zurückgetreten. Daß man überhaupt Gegenpäpste mit einbezog, lag wohl daran, daß die Konkurrenzstreitigkeiten zu diesem Zeitpunkt (1590) noch nicht völlig entschieden waren. Die Reihenfolge ist jedenfalls heute eindeutig.
Die letzten fünf oder sechs Devisen passen außerordentlich gut zu den Amtsträgern unserer Zeit, man staune selbst:
Nr. 107 „Pastor et nauta“, d.h. Hirte und Seefahrer, Reisender. Das trifft so gut auf Johannes XXIII zu, der als erster Papst den Vaticanstaat verließ und weite Reisen in die Welt unternahm und in seinem Gehabe auch eher an einen Hirten erinnerte als die asketischen und meist intellektuellen Vorgänger, daß man einmütig die Zuordnung für richtig hielt. Mit den folgenden Päpsten war es nicht anders:
Nr. 108: „Flos florum“, d.h. Blume der Blumen, Lilie. Papst Paul VI war ein überaus feinsinniger Mensch, rein im Sinne der Blüten; sein Familienwappen (der Montini) enthält drei Lilienblüten.
Nr. 109: „De medietate lunae“, d.h. von der Halbheit des Mondes. Johannes Paul I regierte weniger als einen Monat, vom Halbmond an.
Nr. 110: „De labore solis“, d.h. von den Geburtswehen der Sonne. Die Sonne mag hier im Gegensatz zum vorigen Zeichen „Mond“ gewählt sein, paßt tatsächlich auch gut auf den Nachfolger, der praktisch denselben Namen trug: Johannes Paul II (Wojtyla). Er stammte aus dem Osten, dem Land, wo die Sonne geboren wird, und regierte kraftvoll und lange, wie es der Sonne im Gegensatz zum schwindenden Mond zukommt.
Nr. 111: „Gloria olivae“ heißt Ölzweig, ein Friedensstifter, eben jener gerade zurückgetretene Papst Benedikt XVI (Ratzinger), dem alle Gläubigen diese schöne Devise gegönnt haben.
Nr. 112: „In p(er)secutione extrema“ bedeutet, wie schon zitiert: in der äußersten Verfolgung.
Man möchte aus dem langen Zusatz zur letzten Devise (siehe oben) einen 113. Papst konstruieren, der dann den Namen Petrus tragen müßte, wie der (legendäre) erste Bischof von Rom, doch stößt das auf Ablehnung bei den meisten Auslegern, weil es das Schema der Devisen durchbrechen würde. Echte Namen werden in der Liste nie genannt, die Devisen folgen zweiteilig aufeinander, ohne Erläuterungen. Es bleibt bei den 112 Päpsten.
Textgeschichte
Ganz sicher ist man sich nicht über die Erstveröffentlichung der Liste, heute gilt meist das Buch von Onofre Panvinio von 1557 als ältester Beleg: „Epitome Romanorum Pontificium“. Darin wird einer Sammlung von Papstnamen bis zur Nr. 69 jeweils ein Wappen und ein Wahlspruch zugeteilt. Panvinio (1529-68) war einer der besten Geschichtsschreiber seiner Zeit, er verwendete echte Dokumente wie Münzen und Inschriften als Grundlagen, veröffentlichte mehr als 18 Bücher und verfaßte viele Schriften in seinem kurzen Leben von 39 Jahren. In seiner „Geschichte der Päpste“ bringt er oft deren Familienwappen, Wahlspruch und einige Reden, berichtet auch, wer den jeweiligen Papst gewählt hatte, wobei man überlegt hat, ob diese Papstgeschichte den Stoff für die Erstellung der Malachias-Liste gab oder umgekehrt. Erkennbar ist, daß die für Panvinio noch zukünftigen 41 Päpste, die heute zur Liste gehören, diese erst zur „Weissagung des Malachias“ machen.
Der sogenannte Originaltext soll von dem Dominikaner Alfons Chacon (Giaconis) 1590 verfaßt sein. Diese Schrift bildete die Grundlage für das allgemein heute als Vorlage verwendete Buch „Lignum vitae ornamentum et decus Ecclesiae“ (Lebensholz, Schmuck und Zierde der Kirche, Band II) von Arnold von Wion in Belgien, das 1595 gedruckt wurde. Ab S. 307 erscheint hier als letzte Eintragung unter dem Buchstaben D, Dunenses in Hibernia (Down in Irland), die bekannte Liste der Päpste, wobei neben jeder Devise bis zur Nr. 74 eine Erläuterung in Latein angefügt ist, bis zur Nr. 77 sogar der jeweilige Amtsname des Papstes.
Genau 95 Jahre später, 1690, gibt es einen Neudruck dieses Buches, wobei Kenner der christlich-computistischen Technik sofort hellhörig werden, denn in den beiden Schlüsseljahren 1595 und 1690 endete jeweils ein Osterzyklus von fünfmal 19 Jahren, was sich in Kalendersteinen und Kommentaren niederschlug (siehe Ulrich Voigt).
Wir sind nun sicher, daß ein Kirchenmann die Weissagung erfunden hat, also einem hl. Malachias von Irland zugeschrieben und im späten 16. Jahrhundert herausgegeben unter Verwendung einer bis dahin schon fertiggestellten Päpsteliste (vermutlich von Panvinio), die vom 12. bis 16. Jahrhundert reicht. Es bleibt doch die erstaunte Frage: Wie kommt es, daß zumindest seit jenem Zeitpunkt die Trefferquote immer noch relativ hoch ist? Zwar wird von denjenigen, die die Liste für eine Fälschung halten, behauptet, daß die Präzision der Aussagen nach 1590 deutlich geringer sei als für die Päpste davor, was man auch erwarten müßte, wenn man Weissagung aussschließt. Aber das möchte ich nach Durchsicht der Liste nicht bestätigen. Das Gegenteil, nämlich daß die jüngeren Devisen noch besser passen, wird ebenfalls vertreten, etwa von Igartua (s.u.). Das würde darauf hinweisen, daß die Beschreibung und die Reihenfolge einzelner Päpste, die vor dem 16. Jahrhundert regiert haben sollen, nach 1590 noch verändert wurde, so daß sie heute nicht mehr zu den veröffentlichten Devisen passen; die späteren Päpste konnten nicht mehr verändert werden, es liegen zuviele historische Zeugnisse vor.
Die Zuteilung der Päpste zu den malachischen Devisen mag zunächst zweifelhaft aussehen, dennoch ist die Abfolge ein weiterer Grund zur Verwunderung. Denn daß eine einzelne Devise stimmen könnte, liegt im Bereich des Zufalls, daß aber mehrere Dutzend hintereinander in richtiger Reihenfolge passen, ist schon erstaunlich. Die Devisen sind nämlich keineswegs so schwammig und nebelhaft, wie das bei Weissagungen oft der Fall ist, auch wenn die Kriterien der Auswahl sehr weit gefaßt sind und im Einzelfall offen bleiben. Eine Berücksichtigung der Devisen bei der Papstwahl ist möglich.
Im 16. Jahrhundert fehlte es nicht an Propheten und Weltuntergangspredigern. Pedro Buenaventura hatte zeitweise 20.000 Anhänger und mußte von der Kirche bekämpft werden. Im Gegensatz dazu hat sie die schriftliche Prophezeiung des Malachias nie verboten oder zensiert, eher mit Stillschweigen übergangen. Allerdings haben berühmte Katholiken zu allen Zeiten diesen Text kommentiert, Gegner ebenfalls; einige Namen will ich aufzählen:
Im 17. Jahrhundert: Cornelius A. Lapide in seinem bekannten Kommentar zur Apokalypse (1620); der Jesuit Heinrich Engelgrave (1610-70); Sartorius; Graff; Papebroeck, der berühmte Bollandist; Menestrier.
Im 18. Jahrhundert: Fabricius; Palatius; Tanner; Benito Feyjoo (1676-1764).
Im 19. Jahrhundert: F. K. Ginzel, der Chronologe; Ballerini; Adolf von Harnack, der evangelische Theologe; Sommervogel; Ulysses Chevalier.
Und im 20. Jahrhundert: Hildebrand Troll (1961); der Engländer Thurston; der Franzose Vacandard (1926); Thibaut.
Teile dieser Aufstellung fand ich in dem gelehrten Werk des Jesuiten Juan Manuel Igartua, „El enigma de la profecia de San Malaquías sobre los Papas“ (Barcelona 1976), eines bekannten Schriftstellers. Er zitiert viel aus dem Buch von Joseph Maitre, „La prophétie des Papes attribuée à S. Malachie“ (2 Bände, Beaune 1901 und 1902), der 125 Kommentatoren nennt. Ein Gegner der Weissagung, Victor Dehin, hat sogar rund 400 Bücher und Artikel zu diesem Text zusammengestellt. Aufschlußreich ist auch Victoriano Domingo, „Y dijo el ángel: No habrá mas tiempo. Los vaticinios de San Malaquías“ (Barcelona 1971). Lesenswert ist ebenso Raoul Auclair, „La prophétie des Papes“ (Paris 1969).
Die Berechnungen
Wie ungeheuer fantasievoll und akribisch die Berechnungen zum Weltende durch die Theologen durchgeführt wurden, ist ja allgemein bekannt. Am Beispiel dieser Prophezeiung läßt sich das ein weiteres Mal miterleben.
Eine wichtige Grundlage für alle Endzeit-Vorhersagen ist das Tausendjahrreich, denn 1000 Jahre sind vor Gott wie ein Tag (Psalm 90, 4) und umgekehrt (2. Petrus 3, 8). In der Offenbarung des Johannes (20, 2-7) kommt sechsmal das Tausendjahrreich vor. Die Chronologen benützten diesen Rechenansatz. Die sechs Tage der Schöpfung entsprechen 6000 Jahren, das ist die Spanne der menschlichen Geschichte in diesem Schema. Das erste Drittel von 2000 Jahren lag zwischen Adam und Abraham, das zweite Drittel zwischen Abraham und Jesus, und das letzte Drittel ist unsere geschichtliche Zeit, von der Passion Jesu (31 AD) bis 2031, das auf diese Weise zum Endzeitjahr wird. Diese Vorstellungen ziehen sich durch sämtliche theologische Schriften von Augustinus (De civitate Dei 20, 7) und Hieronymus (Brief an Cyprian, 8 – von 418 AD) zu Irenäus und Origenes (contra Celsum), bis zu dem gelehrten Moses aus Gerona und dem Rabbiner Isaac. Auch Heiden wie Hydaspes und Trismegistos und sogar die Sybillen bringen diese Zahlenwerte.
Eine andere Zahlenreihe läuft so: In der Offenbarung des Johannes wird der Antichrist als Fürst der Unvollkommenheit mit der Zahl 666 belegt; Lamech, der Vater Noahs in der Genesis, hat ein Lebensalter von 777 Jahren; und für Jesus gilt der Zahlenwert 888 (nach den griechischen Buchstaben seines Namens). Die Päpsteliste des Malachias beginnt 1143 und soll natürlich bis zum Endjahr 2031 reichen, das sind genau die 888 Jahre der christlichen Vollkommenheit. Die Mitte, 444 Jahre nach dem Beginn der Liste, fällt auf das Jahr 1587 und damit genau in die Mitte der Regierungszeit von Papst Sixtus V. Er ist die Nr. 73 auf der Liste und liegt goldrichtig, denn seine Devise lautet: „Axis in medietate signi“, Achse in der Mitte des Zeichens. Dies trifft auch für sein Wappen zu, das durch einen schrägen Balken halbiert wird. Das hat Igartua (1976, II, VII) herausgefunden, allerdings nicht gemerkt, daß die Veröffentlichung der Liste genau dann erfolgte, als das Zusammenfallen der Halbierung der Gesamtzeit und der Regierungszeit des Papstes erstmals festlegbar war, nämlich nach dessen Tod 1590. Die Liste von Chacon ist 1590 verfaßt.
Beliebt ist auch die Teilung einer Strecke oder Zahlenreihe nach dem Goldenen Schnitt, ein in der Literatur seit Virgil beliebtes Stilmittel: die Gesamtstrecke verhält sich zur Teilstrecke wie diese zu dem Rest. Die Goldene-Schnittstelle der Liste ist Nr. 69, der letzte der von Panvinio aufgeführten Päpste. Seine Devise lautet: „de fide Petri“, (von der Treue des Petrus), wobei der Name Petrus hier nicht als Papstname sondern als Bezeichnung des Papstamtes gemeint ist; es ist die einzige Devise, die das Wort Petrus enthält außer der langen Erklärung am Schluß der Liste. Der Rest des Goldenen Schnitts ergibt Nr. 42, „de cruce Apostolica“ (vom apostolischen Kreuz), und der Goldene Schnitt von dem verbleibenden Rest trifft die Nr. 96, „peregrinus Apostolicus“ (apostolischer Wanderer oder Pilger, Pius VI um 1800), die einzigen beiden Devisen der Liste, die den Begriff apostolisch enthalten. Das ist so auffällig, daß es beabsichtigt erscheint. Damit zeigt sich die Liste als bewußt konstruiert, mithin nicht als inspirierte Weissagung sondern eher als chronologische Arbeit.
Das leuchtet wohl ein: Papst Nr. 69 regierte, als Panvinio die Liste herausgab; Arnolds Druckwerk wurde zur Regierungszeit von Papst Nr. 73 veröffentlicht, der inneren Mitte der Liste. Es scheint, daß man zu diesem Zeitpunkt so etwas wie ein Muster in die Geschichte der Päpste einbauen will. Der Zeitpunkt ist günstig, denn noch liegt das gesamte chronologische Schema nicht fest, die Arbeit steht kurz vor dem Abschluß, eine Einflußnahme mit Hilfe dieser Liste ist noch möglich. Bald danach hätte man auch die Päpste vor Malachias (also vor Coelestinus II) einbeziehen müssen, was zum Zeitpunkt von Panvinio noch nicht möglich und nicht erwünscht war.
Cornelius Lapide (1620), der das wohl auch weiß, entwickelt dennoch ein etwas anderes Schema entsprechend seiner aufgeklärten Zeit: Er veranschlagt die Regierungszeit der Päpste der Malachias-Liste bis zu seinem eigenen Standpunkt mit sieben Jahren pro Papst, für die Zukunft mit rund 13 Jahren, und erreicht so das Jahr 2050 als Ende. Interessanterweise ist diese Berechnung der Lebensalter bis heute zutreffend, was nur bedeuten kann, daß die Liste für die Päpste vor 1590 nach einem anderen Schema erfunden wurde als diejenige für die Zukunft. Der Bruch um 1600 ist als Unterschied zwischen „Weissagung“ und „Geschichtsschreibung“ zu werten.
Nutzen der Betrachtung
Wir haben an Hand dieser Liste des Malachias die Herstellungsweise eines historischen Dokuments verfolgen können und dabei Einsicht in den Arbeitsgang bekommen. Das 16. Jahrhundert bildet die mittlere Achse der chronologischen Arbeitsweise: Es wird eine prinzipiell irreale Vorgeschichte aufgebaut, die mehr als vierhundert Jahre zurückverlegt wird, gebunden an einen zu diesem Zweck erfundenen kirchlichen Amtsträger, der zum Heiligen gekürt wird und eine Weissagung hinterläßt (St. Malachias). Der Text der Weissagung taucht nirgends auf, bis während der Erstellung einer „historisch“ gemeinten Päpsteliste dringender Bedarf entsteht, einen möglichst symmetrisch oder sonstwie zahlenmäßig prägnanten Geschichtsablauf zu konstruieren. Nun wird die gerade begonnene Päpsteliste dem erfundenen Heiligen zugeordnet und in die Zukunft fortgesetzt, womit ein verbindlicher Zeitstrahl geschaffen wird, der immerhin 888 Jahre (heilige Zahl) überschauen läßt. Da man die Chronologie für eventuelle spätere Änderungen offenhalten will, gibt man der Liste die Form einer unverbindlichen „Privatoffenbarung“, über deren Realitätsbezug die Kirche jeweils nach Notwendigkeit entscheiden kann. Zwar wurde von mehreren Gelehrten sehr bald durchschaut, wie diese Liste als Machwerk zu entlarven ist, damit wurde aber nicht das eigentlich täuschende Moment entblößt, nämlich die um vierhundert Jahre zurückverlegte „Geschichte“ der Kirche mit Päpsten usw. Im Gegenteil, indem viele Theologen und sogar Gegner das Schriftstück besprachen und Elemente daraus als realistisch akzeptierten (Päpste im 12. Jahrhundert!), wurde es zum geschichtsträchtigen Dokument, das nicht mehr als lächerliche Anekdote beiseite zu schieben war. Der jetzt im Internet und anderen Medien sich entzündende Disput um die Weissagung zeigt einmal mehr, wie aus irrelevanten Entwürfen kirchliche Historie geschneidert werden kann.
17.2.2013
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