Berlin · 2012 Uwe Topper
Ein Sternbild des Nordhimmels
Die Gruppe der Sternbilder zum Mythos des Perseus am nördlichen Sternhimmel
Für den frühen Menschen war es sicher kein leichtes, den gewaltigen Himmelsraum mit seinem Lichtermeer zu ordnen, es geschah abschnittweise und an vielen Orten verschieden. Die Sterne häufen sich an einigen Stellen, an anderen wieder liegen leere Räume. Das regt an, die Haufen zusammengehörig, als Bild, zu erfassen. Einige Muster haben sich im Laufe der Generationen durchgesetzt und sind bis heute Standard geblieben, obgleich sie keinen Sinn mehr machen. Die Bilder, die der frühe Mensch am Himmel ‚sah‘, stammten aus seiner Umwelt und waren wichtige Gestalten von mythischer Bedeutung, religiösen Metaphern gleich. Später wurden passend zu den Sternbildern Sagen erzählt, in denen schon astronomische Erkenntnisse enthalten sind, wie zum Beispiel deren Auf- und Untergänge im Jahreslauf.
Die nie untergehenden Sterne um den Himmelspol werden in unseren Breiten wohl schon sehr früh zu Bildern gefügt worden sein: Um den Ekliptikpol gewunden liegt der Drache mit rautenförmigem Kopf und langem verschlungenem Schwanz; er sieht aus wie jene Papiergebilde, die wir im Herbst steigen ließen. Dann sind da die beiden Wagen zu beiden Seiten des Drachen, die um den Pol herumfahren; sie werden auch Bärinnen genannt. Und dann recht lustig das ‚Haus des Nikolaus‘ (Kepheus), ein Rechteck mit spitzem Dach und kleinem Anbau. Es könnte einen Turm darstellen, dessen Spitze zum Nordpol weist.
Als Kindern schon prägte sich uns dieses Bild ein, weil wir es auch zum Hinkeln aufs Pflaster zeichneten, wobei alle sieben Sterne mit einem durchgehenden Strich verbunden werden mußten. Das beruht wohl auf langer mündlicher Überlieferung, die sich gegen die schriftliche Lehrform erhalten hat. Klassisch-griechisch und über die arabischen Handschriften vorzeigbar steht das Bild für den äthiopischen König Kepheus und gehört zur Sage um Kassiopeia, Andromeda und Perseus, die alle in der Nähe des Kepheus am Himmel stehen. Doch König Kepheus sieht kaum wie ein König aus, sondern kniet kopfunter. Seine spitze Mütze weist nach Süden.
König Kepheus nach dem Sternatlas des Sufi
Almagest
Man kann das Almagest als Flickenteppich bezeichnen, wie so viele alte Bücher, die enzyklopädisch das Wissen aus der Antike hinübergerettet haben in die Renaissance. Meist läßt sich nur schwer erkennen, aus welchem Kulturkreis oder Zeitraum die einzelnen Teilstücke stammen. Daß die zirkumpolaren Sterne aus dem Norden übernommen sind, wurde schon mehrfach behauptet. Dem wäre ein weiteres Argument in diesem Sinne anzufügen.
Die Reihenfolge der im Almagest aufgeführten 48 Sternbilder ist bedeutungsvoll und wurde von allen Nachfolgern übernommen. Sie müßte auf eine ältere Vorlage zurückgehen, denn sie folgt nicht dem einfachsten Weg, der zum Beispiel als Schnecke in immer weiteren Kreisen um den Polarstern oder um den Ekliptikpol ziehen könnte. Ptolemäus beginnt in der Nähe des Nordpols mit der Kleinen Bärin, greift hinüber zur Großen Bärin und beschreibt dann das dazwischenliegende Bild des Drachen, der sich um den Ekliptikpol windet. Als viertes Bild kommt Kepheus dran, unser Nikolaus-Häuschen. Die Achse dieses Bildes verläuft nahe dem Präzessionskreis. Dann springt Ptolemäus bei seiner Sternbildbeschreibung wieder über den Drachen und zählt in ordentlicher rechtsläufiger Reihenfolge mit Bootes (Viehhirte) beginnend insgesamt acht Sternbilder, nämlich: Nördliche Krone, Herkules, Leier und Schwan, dann endlich die zu Kepheus mythologisch gehörende Gruppe: dessen Tochter Kassiopeia und ihren Befreier Perseus. Vom anschließenden Wagenlenker Auriga springt er erneut zur entgegengesetzten Himmelsseite und beschreibt den Schlangenträger (Ophiuchus) und dessen Schlange. Von hier geht er wieder der Reihe nach bis zu Andromeda, der Gemahlin von Kepheus, nennt dann das Dreieck (Triangulum Bild Nr. 21), und geht zu dem ganz nahe liegenden Widder, dem ersten Bild im Tierkreis, von wo aus er in gewohnter Reihenfolge alle zwölf Bilder des Zodiak abrollt. Von den Fischen als letztem folgt er den Bildern nahe dem Äquator weiter in derselben Richtung, wobei er nur den Jäger Orion dem Fluß Eridanus vorzieht, auch hier vermutlich einer älteren Abfolge nachgebend.
Was mich wundert, ist die Unlogik in der Reihenfolge zu Beginn, die mythologisch keinen Sinn macht: die Sonderstellung von Kepheus (Nikolaus), dem vierten Bild. Zwar sind dessen fünf Hauptsterne weniger hell als der Polarstern, doch die Spitze von Nikolaus (Gamma Cephei) ist der nächststehende aller hellen Sterne um den Polarstern. Alpha im Cepheus hat 2,5 m, Beta 3,3 m und Gamma 3,5 m. Vielleicht hat Ptolemäus sich dadurch verleiten lassen, Kepheus als viertes Bild aufzuführen, denn die drei genannten sind die hellsten Sterne in diesem Himmelsbereich. Es könnte aber auch ein älteres Vorbild diese Sonderstellung gefordert haben, wie folgende Überlegung zeigt: Der arabische Name von Gamma Cephei, Al-Rai, bedeutet „der Hirte“, deswegen heißt der Stern lateinisch Pastor, was ebenfalls Hirte bedeutet; völlig überraschend nennt man ihn auch „der Brennende“, lateinisch Inflammatus (der Entflammte) und arabisch Multahib, was dasselbe bedeutet. Multahib ist die Aktiv-Partizip-Form von iltahaba = sich entflammen, sich entzünden, Feuer fangen, von der Wurzel LHB = Flamme, Feuer, Lohe.
Diese Benennung des Sternes ist bisher ungeklärt (siehe Kunitzsch, Alm. S. 173), Tallgren schlug vor, daß die Spitze wie eine Flamme aufgefaßt wurde. Dabei wird das Bild mit dem spitzen Dach zum Polarstern hingewandt betrachtet, was sinnvoll ist.
Kinderspiel
Die Stein-Hüpf-Spiele der Kinder sind ja meist uralt und enthalten wichtige Mythologeme (Topper 1977, S. 223; ausführlich Friedr. Hirsch). Wir malten das Nikolaus-Haus als Kinder aufs Pflaster zum Hinkelspielen und sagten dazu den Spruch: „Das-ist-das-Haus-des-Ni-ko-laus-mit-Klo-sett.“ Es gehörte etwas Geschicklichkeit dazu, die Figur in einem Strich und ohne einen Weg doppelt zu ziehen aufs Pflaster zu malen, wobei das kleine Extrafeld rechts am Schluß kam und nicht vergessen werden durfte. Beim Aufsagen der elf Silben wurden die Wege gezogen, die die sieben Eckpunkte (Sterne) verbinden, so daß sich ein Giebelhaus oder spitzer Turm mit kleinem Anbau ergibt. Mit diesem Umriß erscheint das Sternbild auch auf den üblichen Globen.
Es hat fast immer die Form des spitzen Turmes und den dreieckigen Anbau an der Seite, obgleich viel mehr Sterne zur Verfügung stehen, die sogar heller sind als Zeta (z.B. Delta ganz nahebei). Sie gehören dennoch nicht zur Zeichnung, aber die beiden am rechten unteren Rand sind fast immer eingezeichnet als Anbau. Im arabischen Manuskript des Sufi, der vermutlich dem griechischen Vorbild folgt, werden andere Sterne für den König ausgewählt.
Zugegeben, das Klosett klingt blöd, gehörte aber bei uns ganz wichtig zum Spruch und formte bei dem Kreidebild den Ausruhplatz, den alle Hinkelspiele brauchen. Es engt die Reihenfolge der Striche ein, ohne das Klosett gäbe es mehr Möglichkeiten, die Figur zu zeichnen. Ob es die Halle, den Versammlungsraum, neben dem überdimensionierten Turm wiedergibt?
Nikolai oder Nikolaus, wer ist das?
Mit dem Namen des Nikolaus, der der älteste Schutzheilige Norddeutschlands ist und dem die meisten alten Kirchen dieses Gebietes gewidmet sind (Maria folgt erst an zweiter Stelle), verband man nicht nur Seefahrt und Handel sondern auch die Türme mit ihren Leuchtfeuern, die den Schiffen Sicherheit boten und als Nachrichtenorte heilig waren. Die Nachsilbe -laus könnte auf Licht, lux, Luzia weisen. Dann wäre verständlich, warum die Araber und ihnen folgend lateinische Übersetzungen im Almagest das Bild „der Entzündete“ nannten und seine Turmspitze als Flamme auffaßten.
Bei meinen Wanderungen in Norddeutschland fiel mir immer wieder auf, daß im Mittelpunkt des Kerns alter Städte eine Nikolaikirche steht, oder daß zumindest das Viertel im Mittelpunkt der Altstadt Nikolaiviertel heißt. Von Osnabrück über Lippstadt und Brandenburg bis Berlin und Anklam in Pommern. Eine statistische Untersuchung wäre vielleicht aufschlußreicher als diese Erfahrung, die sich in der Erinnerung allmählich festsetzte, hier kann ich nur von meinen Eindrücken erzählen. Als Berliner fange ich in Berlin an: Nahe am Übergang über die Spree, der zur Gründung der Stadt Anlaß gab, steht die Nikolaikirche, die zwar etwas jünger als die Marienkirche sein soll, aber vielleicht bezieht sich das nur auf die Benützung durch Christen. Als Gebäude dürfte die Nikolaikirche eher bestanden haben, wie man an der Bausweise des Turmsockels mit seinen klobigen Findlingen ahnen kann. Die „spätgotische Hallenkirche“ stammt zwar von 1470, aber der „frühgotische Westbau“ aus Granit wird „nach 1230“ angesetzt. Heute hat die Kirche zwei Türme, während noch auf Stadtplänen aus dem Barock (z.B. von 1688) nur ein Turm vorhanden war. Dieser mächtige Turm aus behauenen Granitsteinen wird – soviel kann nach den jahrelangen Untersuchungen als gesichert angenommen werden – das erste Heiligtum am Platz gewesen sein. Jedenfalls ist das Nikolaiviertel der älteste Kern Berlins. Die Marienkirche hätte am Stadtrand oder außerhalb der Stadt gestanden, wie es sich für frühe Christentempel ziemt.
Die alten Stadtpläne Berlins lassen recht gut erkennen, was ich (2003, S. 72 u.ö.) die Dreiteilung oder dreigestaltige Religion nannte: Das Nikolaiviertel bewohnten die deutschen Heiden, es hatte ein Rathaus und Gerichtsgebäude, eben den Nikolaiturm. Gegenüber auf der anderen Seite der Spree liegt Cölln mit der Peterskirche, Siedlung (Colonia) der deutschen Christen, wobei Peter wie überall der Ersatz für Donar ist.
Und im Kiez, der sich nach Süden anschließt, lebte die Fischerbevölkerung, Wenden mit ihrem anderen heidnischen Kult. Das ist sogar im Plan von 1750 noch ablesbar.
Fahren wir nach Brandenburg, so sieht es nicht anders aus. Drei Stadtteile drängen sich um die Havelschleife: Neustadt, Altstadt und Dominsel. In der Altstadt selbst gibt es an Monumentalbauten nur das Rathaus. Die beiden Kirchen St. Johannis und Gotthardt liegen außerhalb der ersten Mauer, und die älteste christliche Kirche, die Nikolaikirche, weit außerhalb der Altstadt; seit der Restaurierung ist sie ein Schmuckstück romanischer Architektur. Der Domkiez dagegen wirkt mit seiner runden inselartigen Abgeschlossenheit wie der Thingplatz des ganzen Gebietes. Neben ihm steht – für den christlichen Gebrauch dazugesellt – eine Peterskapelle. Im Mittelpunkt der Neustadt liegt der Markt und nicht weit davon steht, wegen der kultischen Ausrichtung Ost-West schräg ins Gassengeviert gebaut, wobei viele Häuser abgerissen werden mußten, die gotische Katharinenkirche, die entgegen aller gutgemeinten Vordatierungen nicht älter als die Reformationszeit sein wird.
Die älteste Kirche in Spandau ist die Nikolaikirche mit einem Hochaltar von 1581 und einem Taufkessel von 1389. Die Nikolaikirche in Leipzig stammt von 1165, das spätgotische Langhaus, das wir heute sehen, wurde 1513 begonnen, geweiht wurde es vermutlich um 1526. Es gibt dort eine alte Nikolaischule, die älteste Schule der Stadt, 1512 gegründet; der heutige Bau ist von 1568. In Meißen steht die Nikolaikirche im Triebischtal, romanisch aus dem 12. Jh., umgebaut Ende des 13. Jahrhunderts.
In Görlitz ist die älteste Kirche eine Nikolaikirche; sie wurde 1452 begonnen und mehrfach verändert. 1497 errichtete man auf dem Burgberg oberhalb der Neiße die St. Peter- und Paulkirche, danach diente die Nikolaikirche nur noch für Beerdigungen. Um sie herum liegt der Friedhof, wie bei den meisten alten Kirchen.
In Anklam an der Peene erhebt sich die Nikolaikirche mitten in der Stadt; der Turm ruht auf mächtigen Granitsteinen, die 2 x 1 Meter messen. Auf dem Turm gab es ein Signalfeuer, das weit übers Haff sichtbar war und den Lotsen den Weg wies, bis 1586 ein neues Dach dieser Verwendung ein Ende machte. Ebenfalls in der Stadt steht eine zweite alte Kirche, die der Maria geweiht ist.
Die Nikolaikirche in Wismar wurde hundert Jahre lang gebaut, von 1381 bis 1487. Der bronzene Taufkessel von 1335 stammt aus der Marienkirche der Stadt.
Osnabrück hat auch eine Marienkirche, neben ihr steht das Rathaus des Westfälischen Friedens. Außerdem gibt es einen Dom mit Nordportal und ›romanischen‹ Figuren sowie ein mächtiges Westwerk mit Kaisersaal, noch ganz im Stil des Gerechtigkeitskultes. Das älteste Viertel der Stadt ist das Nicolaiviertel, die Katharinenkirche hat einen alten Turm.
In Lippstadt liegt die erste Besiedlung rund um den mächtigen Turm der Nicolaikirche, der als ältestes erhaltenes Bauwerk der Stadt gilt, nahe beim Alten Markt; neben der Marienkirche erstreckt sich der Neue Markt.
Diese Reihe könnte fortgesetzt werden, sie zeigt schon das Muster. Es gibt auch Orte, die Nikolai heißen, wie die Stadt in Oberschlesien, oder Nikolaiken bei Gumbinnen. Doch der Name wundert mich, denn der Schutzherr dieser Kirchen und Orte wird heute als Bischof Nikolaus von Myra in Kleinasien im vierten Jahrhundert angegeben. Das ist nicht nur zeitlich und räumlich weit hergeholt, sondern auch sprachlich verwirrend. Griechisch Nikolaos wäre „Volksbezwinger“ oder „Sieger des Volkes“, ohne Zusammenhang zu dem gedachten Bischof. Andererseits ist der Hagios Nikolaos einer der beliebtesten Heiligen der griechischen Fischer und ihr Schutzpatron, fast jedes zweite Boot trägt seinen Namen. Der kirchliche Todestag des Heiligen, der 6. Dezember, ist noch heute so etwas wie der Konkurrenztag zum alten Weihnachten. Die Bescherung (oder Bestrafung) der Kinder fand vielerorts – besonders in Norddeutschland und Holland – an diesem Tag in echt heidnischer Form statt, indem Niklas begleitet von teuflischen Wesen die Häuser heimsucht.
Ketzerei
Auf den Namen Nikolaus gehen mehrere ketzerische Strömungen zurück, meist als Nikolaiten zusammengefaßt. In der Offenbarung des Johannes (2, 6 u. 15) sind die Nikolaiten jene Heidenchristen, die die jüdischen Speisegesetze und sexuelle Einseitigkeit nicht beachten wollten; im „Mittelalter“ nannte man die Priester, die nach Einführung des Verbots der Priesterehe ihre Frauen nicht verlassen wollten, Nikolaiten. Das Wort bezeichnete theologisch allgemein Leute, die es mit der Keuschheit nicht so genau nahmen, also wie die Heiden freizügig lebten.
Das hat einen geschichtlichen Hintergrund, der gar nicht so lange zurückliegt: Ein Prediger namens Heinrich mit dem Zunamen Nikolai, geboren in Münster 1501, von einfacher Art mit mystischer Erleuchtung, erweckte eine große Gemeinde von Köln über Utrecht und Amsterdam bis England, die von der kirchlichen Mission nicht erreicht wurde. Wann er starb, weiß man nicht, seine Anhängerschaft wuchs noch lange und überlebte unter verschiedenen Gruppierungen (Wiedertäufer, Mennoniten, das sind die mit der Sonne am Giebel ihrer Bethäuser, usw.) bis ins 19. Jahrhundert, obgleich Königin Elisabeth schon 1580 seine Schriften verbrennen ließ. Diese Schriften sprachen nur von der Liebe, „die eins macht mit Gott“, und darin lag wohl das Verbrechen. Den Namen „Familisten“ erhielten sie, weil sie sich alle wie eine große Familie fühlten und gegenseitig so achteten.
Die wichtige Stadt Münster und die blutige Niederschlagung der Wiedertäufer 1535, die mit den Familisten manche Gemeinsamkeit hatten, – zum Beispiel die Mehrehe – wäre ein eigenes Kapitel wert. Da Thomas Müntzer und die Bauernkriege in den letzten Jahrzehnten in der DDR vielfach bearbeitet wurden, kann ich es hier mit dem Hinweis bewenden lassen.
Die Verbreitung der Nikolaikirchen im Norden von Europa deckt sich ungefähr mit dem Ausbreitungsgebiet der Hanse, von London über Brügge bis Riga und Nowgorod, von Stockholm bis Köln. Die Hanse war eine Vereinigung von Kaufleuten ohne staatliche Struktur, sie hielt kein Heer und keine Kriesgflotte, prägte keine Währung, stellte keine Beamten an und war doch mächtiger als viele Staaten, führte eigene Kriege und bestimmte die Finanzen des ganzen Nordens zwischen „1159“ (Gründung von Lübeck) und 1669, der Auflösung des letzten Hansetages. Auch Anklam war Hansestadt und führte einen Greif im Wappen. Man nannte das Kerngebiet der hansischen Städte von Lübeck bis Greifswald auch „wendische Städte“, womit klargestellt war: Christen waren sie nicht (siehe Zedlers Lexikon 1743 unter Wenden: Deutsche sind Christen, Wenden sind Heiden). Das Lübecker Recht war die einzige Formel, die alle zusammenhielt.
Der alte Wassergott
Zurück zu Nikolai; das Wort wird wohl auf der ersten Silbe betont wie alle wendischen Wörter. Wenn es nicht griechisch ist sondern aus unserem eigenen Sprachbereich stammt, was ich bei so weiter Verbreitung und gewichtiger Bedeutung annehmen möchte, dann bleibt nur der Gott der Gewässer übrig, der Nöck. In einem der ganz wenigen männlichen deutschen Flußnamen ist er erhalten, im Neckar, der in lateinischen Urkunden Nicer geschrieben wird. Der romantische Dichter August Kopisch hat ein zauberhaftes Gedicht über den Nöck geschrieben, vertont von Carl Loewe. Dazu kennen wir noch die Wörtchen naß, necken und knacken. Die Nixen sind die weiblichen Begleiterinnen des Nöck, schon rokokohaft versteckt. Die Engländer erinnern sich herzhaft an Nick, das ist der gute alte Teufel, „dear old Nick“, Gegenspieler Gottes, vertraut und nicht satanisch.
Im deutschen Norden ist Nikolai der Schutzherr der Seefahrer, der Fischer und der Handelsleute, steht in den christlichen Texten zu den Altarweihen dieser Kirchen. Damit hat man die Eingemeindung vollzogen, jedoch nur über die Ummünzung des Eigennamens auf einen fernen Bischof. Die Nikolaiten wurden wegen ihrer freizügigen Liebe beschimpft und später verfolgt. Das war ein allgemeines Unterscheidungszeichen zwischen Heiden und Christen geworden: Wer es in der Liebe und Fortpflanzung freizügig nahm, der gehörte dem Teufel an, nicht dem Christus.
Darum verhängten die katholischen Priester strenge Strafen für Unzucht in der Kirche. Wer im Gotteshaus der Liebe allzu fleischlich pflegte, mußte zur Buße das drei- bis zehnfache von dem bezahlen, was ein Elternmörder zu zahlen hatte. Das mag uns absurd klingen, bezeugt jedoch die Schwerpunktsetzung: Nicht der Mord an sich war verwerflich, sondern die Beibehaltung alter Sitten, weil sie religiös verankert waren.
Es gab nämlich rituelle Gemeinschaftszeugungen in gewissen Festnächten in den Versammlungshäusern, was den Christen als unheilig galt. Die Kinder der Liebe waren Gemeineigentum, da sie von der Gottheit gezeugt wurden. In einigen synkretistischen Kulten – zum Beispiel bei Berbern in Marokko – haben sich Reste dieser Sitte erhalten. Mit diesem Kult wurden mehrere Engpässe zugleich überwunden: Unfruchtbarkeit eines Ehepartners, verlorenes Zeugungsgut von Unvermählten, ungesunde Besitzanmaßung von Partnern und Kindern.
Die christlichen Pfaffen wetterten dagegen mit den Worten, die Jesus gegen die Schriftgelehrten sprach (Matth. 3, 7 und 23, 33): „Ihr Schlangen, ihr Otterngezücht, wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?“ (siehe Wenger, S. 5). Sogar die Tiere werden hier verflucht, denn die Fruchtbarkeit der Menschen wurde in Gestalt von Tieren zu Bewußtsein gebracht, als Kröte oder Hase, als Storch oder Schlange, als Begleiter des Nöck. Davon zeugen noch viele alte Figuren an Kirchensimsen und Kapitelen.
Literatur:
Hirsch, Friedrich (1956): Der Sonnwendbogen (postum 1965, Lahr im Schwarzwald)
Kunitzsch, Paul (1974): Der Almagest. Die Syntaxis Mathematica des Claudius Ptolemäus in arabisch-lateinischer Überlieferung. (Wiesbaden)
Sufi – siehe: Strohmaier, Gotthard (1984): Die Sterne des Abd ar-Rahman as-Sufi (Kiepenheuer, Leizig und Weimar)
Topper, Uwe (1977): Das Erbe der Giganten (Walter, Olten)
(2003): horra. Die ersten Europäer (Tübingen)
(2006): Kalendersprung. Europas Religionswechsel um 1500 (Tübingen)
Wenger, Matthias (1996): Geissel des Kreuzes
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