Megalithen im Kaukasus
Der Steinkreis und die Dolmen von Zorats Karer in Armenien
Auf einer der unzähligen Hochebenen Armeniens gibt es einen megalithischen Steinkreis, der von Reiseführern mit Stonehenge verglichen wird. Das hat er nicht verdient, aber bemerkenswert ist er doch. Wir werden ihn gleich näher betrachten, zunächst die erste Merkwürdigkeit: Auf den offiziellen Landkarten, die den Bereich der Megalithbauten dieser Art, also der „Cromlechs“, verzeichnen, liegt das Kaukasusgebiet weit außerhalb der Region, die meist nur die atlantischen Küstengebiete als megalithisch ausweist. Armenien gehört nicht zum klassischen Bereich der Großsteinbauten. Eugen Gabowitsch hatte uns in Synesis Nr. 42 schon damit vertraut gemacht, daß es in einer Küstenzone am Schwarzen Meer, nördlich von Georgien, im russischen Gebiet um Sotschi, Dolmen gibt, die denen im westlichen Mittelmeer so ähnlich sehen, daß eine gemeinsame Kulturstufe angenommen werden muß. Da man für die Großsteinbauten meist Seefahrer als Urheber ansieht, und die Argonauten sagengemäß in diesem Küstengebiet landeten, ist die Verbindung leicht herzustellen. Bei Armenien und dem Steinkreis von Zorats Karer ist das schwieriger – diese Gegend Armeniens liegt weit von jeder Meeresküste, und der Steinkreis im Inland auf mehr als 1500 m Höhe.
Das dreieckige Hochplateau, auf dem sich der Steinkreis erhebt, ist von zwei Seiten durch tiefe Taleinschnitte begrenzt, weshalb man auch an eine Verteidigungsanlage dachte, von der die verbindenden Mauern verschwunden wären. Damit hätte man das Rätselhafte an diesem Bauwerk – seine Einmaligkeit innerhalb eines ganz anderen Kulturumfeldes – ausgemerzt. Die These von der Wehrmauer läßt sich jedoch nicht halten. Wenn man auf einem Hügel steht oder gar eine Luftaufnahme zur Verfügung hat, sieht man, daß es sich um einen der typischen megalithischen Steinkreise handelt, wie sie von Westpreußen bis Marokko vielfach noch erhalten sind. Außerdem, zu unserer Überraschung, gibt es hier mitten in Armenien, innerhalb und außerhalb des Steinkreises, zahlreiche Dolmen von der bekannten Art, sogar mit seitlich eingefügten kleineren Kammern. Das Megalithikum ist an diesem Ort so präsent wie irgendwo in der Bretagne.
Der Kreis der aufrechten Steine ist nicht ganz perfekt sondern eher eine Ellipse, deren beide Achsen 28 m und 30 m betragen, und damit sind wir der Vermutung, daß es sich um ein Abbild der Erdumlaufbahn handeln könnte, schon nahegekommen. Kosmische oder zumindest kalendarische Hintergründe für die Steinkreise gelten ja heute nicht mehr als Spinnerei, sondern werden ernsthaft diskutiert. Daß die Zahl der Steine oder ihre Stellung häufig keinen einfachen Schluß auf ein kosmisches Modell erlaubt, muß nicht nur an der schlechten Erhaltung vieler Kreise liegen, sondern kann auch andere Gründe haben, z.B. den, daß sich das kosmische Vorbild, also der Bewegungsablauf der Erde oder des Mondes, seitdem verändert haben. (Diese Möglichkeit gilt meist noch nicht als akademisch diskutabel, man behandelt den Himmel lieber wie ein modernes Uhrwerk, das mit deutscher Pünktlichkeit seit Urzeiten abspult, wobei dessen kleine Eigenheiten, also das Vor- oder Nachgehen, als Präzession, Anomalie, Nutation usw. mit derselben Genauigkeit von heutigen Werten ausgehend rückberechnet werden.)
Die Dolmen im Steinkreis und auf den angrenzenden Hügeln und Abhängen waren die zweite Überraschung. Wir versuchten erst einmal zu denken, daß es sich um „ähnliche“ Bauten handelt, die nur zufällig wie Dolmen aussehen, mußten aber bald feststellen, daß sie alle bekannten Merkmale unserer Hünenbetten aufweisen: die schweren Decksteine, die aufrechten Wandsteine als Träger, den schmalen Zugang, die seitlichen Kammern, die manchmal als Nachbelegung gedeutet werden, die unterschiedliche Größe und die recht sorglose Stellung im Gelände. Auch wenn uns hier wiederum nicht klar wurde, wofür die Dolmen gedient haben – soviel steht fest: Es sind ganz gewöhnliche Dolmen wie auf Rügen oder Irland, teilweise noch mit ihrem Erdhügel bedeckt.
Viele der noch stehenden Steine des großen Kreises von Zorats Karer haben eine Eigenheit, die ich bisher noch nirgends sah: Sie haben ein gebohrtes Loch am oberen Ende, meist an der Spitze oder nahebei. Es ist recht altmodisch von beiden Seiten gebohrt worden, verengt sich also leicht zur Mitte hin. Findige Touristenführer haben die Löcher gleich als Hinweis auf die vorgeschichtliche Astronomie genutzt: Durch sie hätte der damalige Eingeweihte die Sterne angepeilt oder die Aufgänge von Sonne und Mond anvisiert. Das mag vielleicht hier und da auch möglich sein, wenn man sich auf Zehenspitzen stellt oder ein Fußbänkchen benützt, doch bei der Vielzahl der Steine mit ungeordneten Löchern ist diese Erklärung wertlos. Die Löcher dürften für den Transport der durchaus schweren und unhandlichen Felsbrocken gedient haben und werden dann auch für deren Aufstellung von Nutzen gewesen sein, indem man sie daran hochzog.
Damit haben wir drei Besonderheiten festgestellt: Die Transportlöcher, die Dolmen mitten im Kreis und in unmittelbarer Nähe, und das einsame Vorkommen in einer sonst „unmegalithischen“ Gegend.
Im Museum in der nahen Stadt Sisian erfuhren wir, daß der Steinkreis archäologisch erfaßt und publiziert ist, in russisch durch die damaligen Staatswissenschaftler. Die Ausgrabungen haben wertvolle Funde ergeben, die alle in die Bronzezeit weisen und damit ebenfalls die typischen Merkmale verstärken. Da gibt es vollständig erhaltene Tonkrüge und Becher mit Ritzmustern, dunkle und helle Ware; Frauenarmbänder aus Bronze und die gewohnten Pfeilspitzen. Die besten Stücke befinden sich wohl in Jerivan und in Petersburg.
Wir erfuhren von den hilfsbereiten und mehrsprachig gebildeten Museumsdamen auch, daß der Steinkreis gar nicht so vereinzelt dasteht, sondern über Armenien verstreut Geschwister hat. Leider sind die anderen Orte sehr schwer zugänglich. Vereinzelte Menhire, auch mit verwaschenen Reliefs, die vielleicht Schlangen darstellten, findet man im ganzen Land. Sie heißen manchmal „Schlangensteine“, Vischap. Einige stehen in Vardenis bei Aparan am Osthang des Aragat (kein Druckfehler, so heißt der zentrale Berg Armeniens, im Gegensatz zum Ararat an der Südgrenze), andere sind neben alten Kirchen oder Museen aufgestellt, z.B. in Metsamor. Es gibt die typischen Steinreihen und die vereinzelten Gedenksteine, die – wenn sie einmal von ihrem ursprünglichen Ort entfernt und vorsorglich zum Museum gebracht wurden – heute kaum noch einzuordnen sind.
Ist jeder Markstein mit vorchristlichen Zeichnungen auch gleich ein megalithischer Überrest? Über Irland hatte ich schon berichtet (Kalendersprung, 2006, Kap. 2), daß die großen Marksteine manchmal zum Gedenken Verstorbener als Denkmal aufgestellt wurden, meist aber einen ganz anderen Sinn haben, nämlich den, die eigene Gerichtsbarkeit oder Markthoheit anzuzeigen. Derselbe Eindruck ergibt sich hier ebenfalls, und diese Reliefsteine gehen fast bruchlos in die berühmten Chatschkare über, die Kreuzsteine der armenischen Kirche. Das sind sehr eigenwillig behauene und mit Flechtbändern oder gar Bildern versehene große Steine, die in jüngerer Zeit stets ein Kreuz zeigen, mit verschlungenen Mustern wie beim Tierstil der Steppe oder den irischen Miniaturen. Die älteren Steine haben Sonnensymbole und Stammesmarken und sind eindeutig vorchristlich. Aus der Übergangszeit sieht man auch schon mal urtümliche Kreuze mit seltsamen Tieren und Menschenfiguren. Über manchen dieser Steine ist ein kleines Dach herausgearbeitet, das das Relief vor dem Regen schützt. Generell sind die Steine wenig verwittert, auch ohne Dach, weshalb man auf ein recht junges Alter schließen muß, denn sie stehen immer im Freien. Die daraus resultierende junge Datierung paßt zu den Rückschlüssen, die wir in Westeuropa gezogen haben: Statt 1700 Jahren reichen auch 700 oder weniger Jahre, um die armenische Kirche („die älteste christliche Staatskirche der Welt, von 301 AD!“) entstehen zu lassen.
Im Zuge der neueren staats-archäologischen „Erkenntnisse“ werden alle Steine immer älter. Die Anlage von Zorats Karer, schreibt Jasmine Dum-Tragut im Reiseführer „Armenien entdecken“ (Berlin 2006, S. 415) „ist auch viel älter geworden, plötzlich soll sie aus der Kupferzeit, aus dem fünften Jahrtausend oder gar aus der Steinzeit stammen.“ Es fällt auf, wenn die Veraltung zu schnell vor sich geht. Bei den gerade (wieder-)errichteten Kirchen und Klosterruinen ist es am deutlichsten zu sehen, und in Erebuni, der Ausgrabungsstätte der Hauptstadt Jerivan, haben die Russen seinerzeit sogar bunte Fresken mit mehrschichtigem Putz für die Besucher geschaffen, täuschend echt als Fragmente hergestellt. Wie ich erfuhr, merken es die Touristen nicht einmal, und niemand sagt es ihnen. Diese dreitausend Jahre gelten als abgesichert! Mit etwas Glück entdeckte ich die amerikanische Chefin der neuen Grabungskampagne und fragte, welches der Wandfreskenfragmente echt sein könnte. „Keins“, sagte sie lapidarisch. Sie muß es ja wissen.
Kehren wir ein letztes Mal nach Sisian zurück, dem Ort des Steinkreises mit dem gut bestückten Museum. Hier gibt es eine weitere Besonderheit: Im Garten des Museums stehen Steine, die aus der weiteren Umgebung zusammengetragen sind. Zuerst beachteten wir die gepunzten Felsbilder: Sie stammen aus Ughtasar, dem schwer zugänglichen Gebirgszug an der Grenze nach Karabagh, über 3000 m überm Meer, wo sich viele dieser Punzbilder befinden. Man sieht die gewohnten Steinböcke mit dem übergroßen Gehörn, die Hirten mit ausgestreckten Armen und gespreizten fünf Fingern, sogar einen Schneeleoparden. Die Ähnlichkeit mit den Felsbildern der ganzen Alten Welt ist so verblüffend, weil man sich die Normierung der Bilder vom Anti-Atlas in Marokko über Andalusien, die Alpen und den Hindukusch bis China so schwer vorstellen kann; die Einheitlichkeit ist augenfällig.
Außerdem stehen im Museumsgarten steinerne Tierfiguren, die auf den ersten Blick wie die steinernen Stiere der Westgoten, die „berruecos“ und Eber der Spanischen Halbinsel aussehen. Schaut man näher hin, sieht man feine Unterschiede: Es handelt sich hier um Widder mit Schneckenhörnern, und manchen ist auf den Leib ein Text graviert, in persisch oder armenisch; manche haben auch einfach nur Bilder auf den Flanken. Diese Steinfiguren sind gar nicht so selten, sie gehören zur Kaukasusregion von Baku bis Georgien, ähnliche wurden von einer Volksgruppe noch bis vor kurzem als Grabsteine aufgestellt: von den Jeziden. Zwar waren deren liebste Tiere Pferde (mit Sattel, ohne Reiter), aber die Ähnlichkeit mit den Widdern ist auffällig.
Hier im Museum gehören die armenisch beschrifteten Widder natürlich zum Christentum und verkörpern wohl den Erlöser, die arabo-persischen gehören zum Islam (und stehen für das Lammopfer zum Kurbanfest?). Den Schwurstieren von Guisando in Kastilien gleichen sie im Kunststil wie in der Auffassung. Kamen die Goten doch aus dem Kaukasus, wie Thor Heyerdahl mit guten Belegen neuerdings wieder vorbrachte? Die These ist ja schon sehr alt. Im 19. Jh. erinnerte man gern daran, daß das klassische Iberische Königreich im Kaukasus – ausdehnungsmäßig etwa dem späteren Groß-Georgien entsprechend – jahrhundertelang bestand und durch seine Literatur berühmt war. In Westeuropa verstehen wir heute unter Iberien und Iberische Halbinsel vor allem Spanien-Portugal, nicht ein Land im Kaukasus.
Die heutigen Bewohner Spaniens erinnern nur ungern daran, daß ihre Adelskaste eigentlich gotisch war, und daß die (Weis-)Goten tonangebend waren, bis sie im 16. Jh. nach mißlungener kultureller Wiederbelebung ihren Namen ablegten. Von den Kanarischen Inseln bis Südamerika, ausgebreitet durch die Seereisen, werden die Spanier noch heute Goten genannt, nicht immer mit sympathischer Absicht.
Das kaukasische Iberisch heißt Kartwelisch, auf Deutsch Georgisch und auf Russisch Grusinisch. Wurden früher die beiden Begriffe „Iberien“ nur zufällig oder zu Recht gleichgesetzt?
Literaturhinweise:
Dum-Tragut, Jasmine (2006): Reiseführer „Armenien entdecken“ (Trescher, Berlin)
Gabowitsch, Eugen (2000): „Sensation: Megalithen des russischen Südens“, in EFODON Synesis, Nr. 42, Heft 6 (November/Dezember 2000), S. 27-32.
Topper, Uwe (1977): Das Erbe der Giganten (Olten und Freiburg)
(2006): Kalendersprung (Tübingen)
Uwe Topper, Berlin (10. Nov. 2008)