In Gedenken: Thor Heyerdahl (1914-2002)

„Heyerdahl war meines Wissens sein Leben lang mehr oder weniger umstritten, mit seinen unorthodoxen Methoden eckte er vielfach an, insbesondere bei der etablierten Wissenschaft. Dass ihm dabei auch Fehler oder Fehldeutungen unterliefen, ist eigentlich normal. Hätte sich die Wissenschaft ihm gegenüber kooperativer gezeigt, hätte er vielleicht einige vermeiden können.
Aber egal, ob Fehler oder nicht. Er hat jedenfalls eine Menge wertvoller Denkanstöße gegeben. Und das ist meiner Meinung nach das Wichtigste. Solche Menschen wie er bräuchten wir mehr!“

Gernot Geise brieflich vom 24.4.2002

2 Boote

Über einen türkisblauen Bergsee im Atlasgebirge gleiten drei kleine Barken. Die eine trägt auf dem hellen Segel das bärtige Gesicht des Sonnengottes Kon-Tiki, die anderen beiden heißen Tigris und Ra-drei. Am Steuer sitzen Jungs, die gerade schwimmen können und sich die Barken selbst gebaut haben. Ihr großes Vorbild ist der Weltensegler, der die Urbilder der Schiffahrt schuf: Thor Heyerdahl. Später standen sie staunend vor den Originalen ihrer Begeisterung im Kon-Tiki-Museum in Oslo und konnten die Stämme berühren, die diesen Mann und seine Gefährten über den Pazifik getragen hatten.
Fatu Hiva haben sie mit Begeisterung gelesen: Wie ein 22-jähriger Norweger mit seiner gerade zwanzigjährigen Frau in den Pazifik fährt und auf einer völlig vergessenen Insel versucht, zu überleben wie ein Naturmensch. Sein größtes Abenteuer stand am Anfang, wie es sich gehört, und es wäre mehrmals um ein Haar schief gegangen. Aber das junge Paar hat überlebt. Man muß dieses Buch lesen, um zu verstehen, was Wagemut ist und wo die Grenzen des Verstandes liegen.
Als die Lebensmittel knapp werden in dem kleinen Dorf, weil die Versorgung durch das Boot ausbleibt, vermutet der Fremdling, daß fern, dort wo er herkommt, Dinge vor sich gehen, die auch hier im unendlich weiten und verlassenen Pazifik Auswirkungen haben könnten. „Die letzten Nachrichten, die wir von der Außenwelt erhalten hatten, waren ein halbes Jahr alt, und damals wütete ein schrecklicher Bürgerkrieg in Spanien. Ein weiterer Krieg tobte in China. ... Der moderne Mensch hat nichts aus dem Weltkrieg gelernt (Thor Heyerdahl ist 1914 geboren). Noch niemals waren soviel Geld und Erfindungskraft auf scharfsinnig erdachte Mittel, die Mitmenschen zu töten, verwendet worden. Der sensationelle Fortschritt der modernen Welt reichte dem Menschen auch nicht einen Zoll tief unter die Haut. Es bedeutete einen Mißbrauch der Theorie Darwins, wenn man predigte, daß das Hirn eines Menschen, der hinter einer Schreibmaschine sitzt, unbedingt höher entwickelt sei als das eines Mannes hinter einem hölzernen Pflug oder einer Angelleine. Ebenso wahnwitzig war es, wenn man sich einreden wollte, daß ein Mensch hinter einem Maschinengewehr höhere ethische Maßstäbe habe als einer, der mit Schleuder und Speer kämpfte.“ (1974, S. 160 f).
Die allererste Geschichte von Fatu Hiva hatte Heyerdahl in Norwegisch geschrieben „Paa Jakt efter Paradiset" (Oslo 1938; etwa: Auf der Jagd nach dem Paradies), aber das schien ihm später nicht mehr zeitgemäß. Das uns vorliegende Buch Fatu Hiva hat er - wie die meisten seiner Bücher und wissenschaftlichen Beiträge - in Englisch verfaßt. Übersetzungen erfolgten weltweit in allen Kultursprachen. Sein bekanntestes Buch „Kon-Tiki“, sein erster Welterfolg, war noch norwegisch erschienen: "Kon-Tiki Ekspedisjonen" (Oslo 1948). Er hat es seinem Vater gewidmet. Es wurde von dem berühmten Wiener Völkerforscher Prof. Dr. Karl Jettmar ins Deutsche übersetzt (1949; das 200.000 Tsd. wurde im April 1953 gedruckt).

Für eine umfassende Ehrung dieses herausragenden Menschen fehlen mir hier - etwas fern der Zivilisation - die literarischen Quellen und Daten. Die meisten wurden ja wohl auch in den Medien in den letzten Wochen ausführlich wiederholt: Geboren am 6. Okt. 1914 in Larvik in Norwegen und gestorben am 18. April 2002 in Colla Micheri an der Riviera di Ponente in Italien. Nicht alle „Obituarien“ (DIE WELT vom 20.4.) waren von herzensguter Zustimmung getragen. Das liegt wohl daran, daß die wissenschaftlichen Beweise, die dieser Mann vorlegte, zu gut waren um widerlegt zu werden. Dann bleibt nur Polemik, obgleich es an Ehrungen seitens der Universitäten keineswegs fehlte. Nicht nur Moskau verlieh ihm einen Ehrendoktor.
Heyerdahl war in erster Linie Anthropologe, Menschenforscher. Sein wichtigstes Werk „Early Man and the Ocean“ (deutsch: Wege übers Meer. Völkerwanderungen in der Frühzeit) begründete die moderne archäologisch gestützte Diffusionstheorie, die besagt, daß der Mensch seine Kulturformen an seine Nachbarn weitergegeben hat. Und die einfachste Weitergabe - das ist Heyerdahls größte Erkenntnis - findet auf dem Wasserwege statt. Über Gebirge und durch Wüsten gibt es auch Handel und Kulturaustausch, aber leichter geht es über Meere und Flüsse. Darum braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Megalithkultur, die an den Küsten Nordwesteuropas entstanden sein mag, auch im fernen Pazifik zu finden ist. Sie konnte dort leichter hinkommen als nach Tibet oder in die Anden.
Schon 1937 auf Fatu Hiva in Polynesien war ihm klargweorden an Hand der Langschädel, daß die Einwohner vielgestaltig geprägte Vorfahren hatten, also von „reiner Rasse“ keine Spur sein kann. Seefahrer von allen Himmelsrichtungen, die der Ozean erlaubt - und das tat er zu unterschiedlichen Zeiten aus unterschiedlichen Richtungen, von Asien wie von Amerika her - müssen zur Bildung der polynesischen Kultur und Bevölkerung beigetragen haben.
Heyerdahls Idee baute auf die deutschen Diffusionstheoretiker auf, Frobenius und Heine-Geldern, Kurt von Boeckmann („Vom Kulturreich des Meeres“, 1924) und Oswald Spengler, die er in seiner Studienzeit wohl alle gelesen hatte. Studiert hatte er zunächst nicht Archäologie oder Völkerkunde, sondern Zoologie, vor allem die des Meeres, die ihn als Sohn einer seefahrenden Nation besonders interessierte. Trotz umfangreicher Bildung war er ganz gewiß kein Akademiker im gängigen Sinne des Wortes, sondern unglaublich vielseitig. Über den Maler Paul Gauguin wußte er genauso Einzelheiten zu erzählen wie über die Mythen der verschwundenen Inka oder die Lebensgewohnheiten der heutigen Osterinselfamilien. Weltweit und weltumfassend war sein Wissen und seine persönliche Erfahrung.
„Tigris. Auf der Suche nach unserem Ursprung“ (1979; Berlin 1980) war ein Abenteuer mit höchster archäologischer Präzision: Ein von ihm gebautes Schilfboot aus Sumer erreichte nach 6800 km in fünfmonatiger Fahrt vom Tigris über die Indusmündung Djibuti am Ostkap von Afrika. Damit war der praktische Nachweis erbracht, daß Schilfboote viele Monate dem Meer trotzen können und daß Seefahrt nach fernen Kontinenten mit dieser vorgeschichtlichen Technik möglich war.
In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Heyerdahl den Steinpyramiden von Guimar auf Teneriffa (Kanarische Inseln), deren Deutung umstritten geblieben ist, obgleich eigentlich nur die zeitliche Einordnung unklar bleibt. Aber das chronologische Problem hat dieser umfassend arbeitende Mann doch noch nicht angehen können.

Schon früh - spätestens nach seinem weltweit miterlebten Kon-Tiki Abenteuer - wurde sich Heyerdahl bewußt, daß er mit seiner Forschung nicht nur archäologische Probleme lösen konnte, sondern auch Aussagen zum Tagesgeschehen machte, die von vielen Menschen weit ernster genommen wurden als die Lügen der Akademiker und Politiker. Darum bemühte er sich mit aller Energie um politisch korrektes Auftreten, wie er es verstand. Er wahrte die Rechte der Staaten, auch der kleinen, die sich nicht immer wehren konnten, nahm Begleiter aus allen Nationen, Religionen und Kulturformen an Bord mit und segelte - außer ganz zu Anfang - unter der Flagge der Vereinten Nationen. Auf Ra I fuhr ein Tschadneger mit, auf Ra II ein Marokkaner, denn diese Fahrten gingen ja von Nordafrika aus. Auch ein Japaner war Mitglied einer dieser gewagten Seereisen, und ein hundertfünfzigprozentiger Sowjetrusse neben einem überzeugten Katholiken, denn Heyerdahl wollte zeigen, daß Weltanschauung und Rasse keine Hindernisgründe für Kameradschaft und Freundschaft sind, selbst wenn es auf engstem Raum viele Wochen lang unter stärkster Belastung gewiß zu Zornesausbrüchen kommen kann. Das Menschliche siegte immer.
Die ‚Tigris‘ war am Ende dieser Reise ein noch voll seetüchtiges Schiff, mit Proviant für die gesamte Mannschaft für lange Zeit versorgt. Das Ziel war erreicht, der gesuchte Beweis erbracht. Da zündet Thor Heyerdahl am 3. April 1978 das Boot im Hafen von Djibuti an, als Fanal vor der ganzen Welt, und schreibt dazu den Text, der über alle Sender verlesen wurde, an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, wo es u.a. heißt:
„Wir sind elf Männer aus Ländern mit unterschiedlichen politischen Systemen. Und wir sind zusammen auf einem kleinen Floß aus biegsamem Schilf und Seilen mehr als sechstausend Kilometer gesegelt, von der irakischen Republik über das Emirat Bahrein zum Sultanat von Oman, der Republik Pakistan bis zur erst kürzlich geborenen afrikanischen Nation Djibuti. Wir können berichten, daß wir trotz unterschiedlicher politischer Auffassungen in bestem Verständnis und in Freundschaft Schulter an Schulter in engen Kojen bei Flaute und Sturm zusammen gelebt und gerungen haben, stets die Ideale der Vereinten Nationen vor Augen: Zusammenarbeit für ein gemeinsames Überleben. ...
Wir verbrennen heute unser stolzes Schiff, das sich noch in bester Verfassung befindet, mit allen Segeln, um gegen die Unmenschlichkeit in der Welt von 1978 zu protestieren, in die wir vom offenen Meer zurückgekommen sind. Wir sind gezwungen, am Eingang zum Roten Meer haltzumachen. Umgeben von Militärflugzeugen und Kriegsschiffen der zivilisiertesten und höchstentwickelten Nationen wird uns von freundlichen Regierungen aus Sicherheitsgründen verweigert, irgendwo an Land zu gehen, außer in der winzigen und noch neutralen Republik Djibuti, weil sich die Brüder und Nachbarn überall sonst mit Mitteln gegenseitig umbringen, die ihnen von denen zur Verfügung gestellt werden, die die Menschheit auf unserem gemeinsamen Weg ins 3. Jahrtausend führen. ...
Unser Planet ist größer als die Schilfbündel, die uns übers Meer getragen haben, und doch klein genug, sich den gleichen Gefahren auszusetzen, falls die noch Lebenden keine Augen und keinen Sinn für die dringende Notwendigkeit einer vernünftigen Zusammenarbeit haben, um unsere Kultur davor zu bewahren, zu einem sinkenden Schiff zu werden.“
Thor Heyerdahl hat viele Nachfolger gehabt, einer ist unseren Lesern gut bekannt: Dominique Görlitz, der mit seinem Schilfboot Abora im Mittelmeer eine weitere wichtige These beweisen konnte: daß auch das Segeln gegen den Wind mit diesen vorgeschichtlichen Booten möglich ist. Seine Gedanken über die mediterranen Pyramiden setzen Heyerdahls Diffusionstheorie würdig fort. Ob das Segeln gegen den akademischen Wind allmählich unsere Geschichtskenntnisse voranbringt?

Einige Bücher von Thor Heyerdahl:

Paa Jakt efter Paradiset (Oslo 1938)
Kon-Tiki Ekspedisjonen (Oslo 1948; übers. v. Prof. Dr. Karl Jettmar, Wien 1949)
American Indians in the Pacific (London 1952)
Aku-Aku. The Secrets of Easter Island (London etc., 1958) - (Berlin 1957)
Expedition Ra. Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit (Gütersloh/Wien 1970)
Fatu Hiva. Zurück zur Natur (1974; a.d. Engl. von Th. u. J. Knust; München)
Art of Easter Island (London etc., 1976)
Early Man and the Ocean (London / New York) - (1978): Wege übers Meer. Völkerwanderungen in der Frühzeit. (München)
Tigris. Auf der Suche nach unserem Ursprung (1979; Berlin 1980)
Die Pyramiden von Tucumé (München 1995)

und einige Bücher zum Thema:

Bengt Danielsson : Kon-Tiki und ich (humorvoller Bericht eines der Expeditionsteilnehmer)
Arnold Jacoby : Senor Kon-Tiki (Berlin/ Frankfurt M./ Wien 1966), eine Art früher Biographie; 2. Band: Jahre der Prüfung.
Dominique Görlitz : Schilfboot Abora. Segeln gegen den Wind im Mittelmeer (Hamburg 2000)

(Der Beitrag "In Gedenken: Thor Heyerdahl" erschien in der Zeitschrift Efodon, Nr. 52, Juli-August 2002, S. 18-20)

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